Die Brüder Karamasow
bis an sein Herz, entfloh seinem Gedächtnis sofort wieder und war vergessen. Später jedoch mußte Aljoscha noch oft daran denken.
»Dein Brüderchen Iwan hat einmal gesagt, ich sei ein ›talentloser liberaler Sack‹. Auch du hast dich, wenn auch nur ein einziges Mal, nicht halten können und mir zu verstehen gegeben, ich sei ›ehrlos‹ ... Na meinetwegen! Wenn ich jetzt eure Talente und eure Ehrenhaftigkeit ansehe ...« Rakitin beendete den Satz, indem er etwas vor sich hin flüsterte. »Hör mal!« sagte er dann wieder laut. »Wir wollen das Kloster liegenlassen und geradewegs in die Stadt gehen ... Hm! Ich müßte eigentlich bei Frau Chochlakowa vorbeigehen. Stell dir vor, ich habe ihr über alles Vorgefallene schriftlich berichtet, und sie hat mir sofort mit einem Briefchen geantwortet, es ist mit Bleistift geschrieben, diese Dame schreibt nämlich außerordentlich gern Briefchen. Sie schreibt, von so einem verehrten Starez wie Vater Sossima hätte sie ›ein solches Benehmen‹ in keiner Weise erwartet. Ja, diese Worte hat sie verwendet: ›ein solches Benehmen!‹ Sie ist ebenfalls sehr ärgerlich geworden. Ja, so seid ihr eben alle! Halt!« schrie er plötzlich wieder, blieb stehen, packte Aljoscha an der Schulter und zwang auch ihn stehenzubleiben.
»Weißt du, Aljoschka«, sagte er und sah ihm prüfend in die Augen. Er stand ganz im Bann eines neuen Gedankens, der ihm plötzlich wie eine Erleuchtung gekommen war. Und obgleich er äußerlich lachte, schien er sich doch zu scheuen, diesen neuen Gedanken laut auszusprechen: So wenig vermochte er an die völlig unerwartete Stimmung zu glauben, in der er Aljoscha jetzt sah. »Aljoschka, weißt du, wohin wir jetzt am besten gehen könnten?« sagte er endlich, vorsichtig tastend.
»Ist mir ganz einerlei ... Wohin du willst.«
»Laß uns zu Gruschenka gehen, ja? Kommst du mit?« sagte Rakitin dann und zitterte am ganzen Körper vor unruhiger Erwartung.
»Gut, gehen wir zu Gruschenka!« erwiderte Aljoscha ganz ruhig.
Diese Antwort, das heißt so eine rasche und ruhige Einwilligung, kam für Rakitin so unerwartet, daß er beinahe zurückwich.
»Na, so was! Sieh mal an!« rief er erstaunt, doch dann faßte er ihn mit festem Griff am Arm und zog ihn schnell mit sich fort, immer noch fürchtend, Aljoscha könnte sich anders besinnen.
Sie liefen schweigend. Rakitin hatte geradezu Angst, als erster ein Gespräch zu beginnen.
»Aber die wird sich freuen, die wird sich freuen!« murmelte er nur, verstummte dann aber gleich wieder.
In Wirklichkeit schleppte er Aljoscha durchaus nicht zu Gruschenka, um ihr eine Freude zu machen; er war ein ernster, berechnender Mensch und unternahm nichts, wovon er keinen Vorteil für sich erwarten konnte. Jetzt hatte er ein doppeltes Ziel vor Augen. Erstens wollte er sich rächen, das heißt »die Schmach des Gerechten« sehen, wie nämlich Aljoscha wahrscheinlich zu Fall kommen und sich aus einem Heiligen in einen Sünder verwandeln würde; darüber triumphierte er schon im voraus. Und zweitens verfolgte er noch ein bestimmtes materielles, für ihn sehr vorteilhaftes Ziel, von dem weiter unten die Rede sein wird.
›Der gewisse Augenblick ist also jetzt gekommen!‹ dachte er sich froh und boshaft. ›Den wollen wir beim Schopfe packen, diesen Augenblick! Er kann uns noch recht nützlich sein!‹
3. Die Zwiebel
Gruschenka wohnte im belebtesten Stadtteil, nicht weit vom Kirchplatz, bei der Kaufmannswitwe Morosowa, von der sie ein kleines hölzernes Seitengebäude auf dem Hof gemietet hatte. Das eigentliche Haus der Witwe Morosowa war groß, aus Stein, zweistöckig, alt und sehr unansehnlich; darin wohnte nur sie selbst, eine alte Frau, mit ihren beiden, ebenfalls sehr bejahrten Nichten. Sie hatte es nicht nötig, ihr Seitengebäude zu vermieten; aber jeder wußte, daß sie schon vor vier Jahren Gruschenka aus einem ganz bestimmten Grund als Mieterin aufgenommen hatte, nämlich um ihrem Verwandten, dem Kaufmann Samsonow, Gruschenkas Beschützer, damit einen Gefallen zu tun. Es hieß, der eifersüchtige Alte habe, als er seine Favoritin bei Frau Morosowa einquartierte, ursprünglich damit gerechnet, die alte Frau würde auf ihre neue Mieterin aufpassen. Aber das erwies sich sehr bald als unnötig, und schließlich ergab es sich, daß Frau Morosowa nur selten mit Gruschenka zusammenkam und sie zuletzt gar nicht mehr mit irgendwelcher Aufsicht belästigte. Freilich waren auch schon vier Jahre vergangen, seit der Alte das
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