Die Brueder
gewesen?
Die einfachste Antwort darauf wäre vielleicht gewesen, dass die Wirklichkeit zweifellos das Gegenteil bewiesen hatte. Aber fast 2000 Menschen waren umgekommen, die genaue Zahl war noch nicht bekannt, und deswegen lud dieser Abend nicht zu den üblichen Zynismen und Scherzen ein. Albie und Sverre versuchten sich stattdessen mithilfe von Sverres Skizzenblock, der auf einer von Vanessa geliehenen Staffelei mitten im Zimmer stand, an einer technischen Erklärung.
Die Behauptung der Unsinkbarkeit basiere darauf, dass ein Schiff durch Schotten in Sektionen aufgeteilt sei. Wenn nur eine Sektion von Wasser gefüllt werde, sei das unproblematisch, auch bei zwei, drei oder sogar vier wassergefüllten Sektionen.
Sverre zeichnete und erklärte.
Es wäre besser gewesen, wenn die Titanic den Eisberg frontal getroffen hätte. Dann wären zwar auch große Schäden entstanden, aber der Liner wäre nicht gesunken. Offenbar hatte das Schiff den Eisberg also schräg gerammt, und dadurch sei ein Schlitz über zu viele Sektionen hinweg entstanden.
Düster betrachteten alle Sverres erklärende Skizze.
Nach einer kurzen Stille wollte Virginia wissen, warum es nur Rettungsboote für die Passagiere der ersten und zweiten Klasse gegeben habe und warum die große Mehrheit an Bord, die Dritte-Klasse-Passagiere, zum Tode verurteilt gewesen sei.
Die Frage war an Sverre und Albie gerichtet, die neben dem Skizzenblock standen. Sverre zögerte. Er fand, das sei eher eine politische und moralische denn eine technische Frage.
Er wusste nicht, was er antworten sollte. Schließlich blätterte Albie den Skizzenblock um und zeichnete rasch eine Skizze der Titanic mit ihren vier Schornsteinen. Dann markierte er eine Reihe an der Seite aufgehängter Rettungsboote.
»Wie ihr seht, benötigen die Rettungsboote viel Platz«, sagte er nüchtern-sachlich. »Man hätte insgesamt zwanzig oder fünfundzwanzig weitere Rettungsboote gebraucht, um auch die Dritte-Klasse-Passagiere zu retten.«
Er skizzierte rasch, wie der Dampfer dann ausgesehen hätte. Rettungsboote überall. Wenig ansprechend, war seine Schlussfolgerung. Es handelte sich also eher um eine philosophische Fragestellung – hier wandte er sich an Bertrand –, wie zu erklären sei, dass die Mehrheit der Passagiere umgekommen war. Waren sie dem Design des Dampfers zum Opfer gefallen?
Alle sahen Bertrand an.
»Es ist furchtbar, aber leider höchst relevant, die Frage so zu stellen«, sagte er, nachdem er demonstrativ und in eine Wolke aus Pfeifenrauch gehüllt nachgedacht hatte. »Aber das Design ist weniger wichtig als das Leben der Erste-Klasse-Passagiere. Die treffende Antwort muss also lauten, dass die Toten in den Augen der Schiffskonstrukteure, der Reederei und der britischen Behörden, die die Konstruktion genehmigt haben, weniger wert sind. Kurz gesagt in den Augen der heutigen Gesellschaft. Das Leben eines Dritte-Klasse-Passagiers ist nicht mehr wert als das eines Deutschen oder eines Buren, von dem eines Massai oder Zulu ganz zu schweigen.«
Es wurde bedrückend still und dauerte eine Weile, bis die Unterhaltung erneut in Gang kam. Die Stimmung war auch durch ein paar Scherze nicht mehr zu retten. Nicht einmal Lytton unternahm einen Versuch.
Mit bleichem Gesicht setzte sich Sverre wieder. Er stand unter Schock und goss sich mit zitternder Hand ein großes Glas Whisky ein.
Nur Albie und Margie kannten den Grund für seinen Zustand.
Seine gesamte afrikanische Bildserie, die in zehn Tagen in New York hätte ausgestellt werden sollen, war untergegangen.
Der energische Denys Finch Hatton hatte ihm zu dieser wunderbaren Möglichkeit verholfen. Jack van Deverer, ein Kunde, den er häufiger auf die Jagd in Afrika mitnahm, war schwerreich, Kunstsammler, Mäzen und Mitbesitzer einer der mondänsten New Yorker Galerien und zufällig in London und bei der Ausstellung »Manet und die Post-Impressionisten« gewesen. Begeistert hatte er einige Gemälde erworben, aber nicht mehr, als auf der Heimreise nach New York in seiner Kabine Platz fanden. Er hatte sich nicht davon beeindrucken lassen, was in den Zeitungen gestanden hatte, und war vom Kauf nicht zurückgetreten. Zufällig war er dann vor den Grafton Galleries seinem afrikanischen Jagdführer Denys begegnet. Anschließend war alles ganz schnell gegangen. Denys hatte seinen afrikabegeisterten Kunden nach Bloomsbury mitgenommen, ihn Sverre vorgestellt und diesen gebeten, ihnen einige Bilder aus der afrikanischen Serie zu
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