Die Brueder
weiter:
Die auserkorene junge Frau, die geopfert werden soll, wird dem Frühling seine Kraft zurückgeben, die anderen Frauen tanzen immer enger um sie herum, bis sie sich nicht mehr bewegen kann (vivo). Die Erde ist jetzt gereinigt.
Die Geister der Vorväter werden herbeigerufen und bewegen sich am Rande des beginnenden feierlichen Tanzes (lento). Als die Auserkorene vor Entsetzen oder Erschöpfung niederzusinken droht, dringen die Geister der Vorväter in den Kreis der jungen Leute ein. Wie raubgierige Bestien schleichen sie sich an, damit sich das Opfer nicht mit der Erde vereinigen kann. Sie ergreifen sie und tragen sie in den Himmel, der Kreislauf der Kräfte, die wiedergeboren werden, sterben und sich mit der Natur vereinigen, ist nun vollbracht.
Im Zuschauerraum war es inzwischen an mehreren Stellen zu einem Handgemenge gekommen, schwere Beleidigungen und üble, lautstarke Flüche schwirrten durch den Saal. An einen abschließenden Applaus für die Künstler war nicht zu denken. Diese flohen voller Schrecken.
Die Polizei war gerufen worden, einige wutentbrannte Radaubrüder wurden festgenommen und weggeschleift, wobei man sie heftig beschimpfte.
»Ein Skandal, vermute ich«, bemerkte Albie amüsiert, als sie sich vorsichtig einen Weg durch die aufgebrachte Zuschauermenge ins Freie bahnten. Albie und Sverre hatten keine Lust, sich in die Streitigkeiten verwickeln zu lassen, und machten sich schnellstmöglich aus dem Staub, um sich in Ruhe über das Erlebte unterhalten zu können. Beide waren von dem einzigartigen, unvergleichlichen Kunsterlebnis erfüllt.
Es war der 29. Mai, und genau ein Jahr zuvor hatten sie einen ähnlichen Skandal hier in Paris erlebt, als die Ballets Russes im Théâtre du Châtelet aufgetreten waren. Damals hatte Vaslav Nijinsky die Hauptrolle getanzt. In dem Ballett, das sie soeben gesehen hatten, stammte die Choreografie von Nijinsky.
Bei der Vorstellung vor einem Jahr hatte es sich natürlich um vollkommen andere Musik gehandelt. Der Nachmittag eines Fauns von Debussy klang im Vergleich zu Strawinskys roher, harter und kontrastreicher Komposition lieblich-melancholisch und melodisch.
Damals hatte der Skandal nicht in der Musik gelegen, sondern im Tanz Nijinskys.
Ein Faun, dargestellt von Nijinsky, jagt ständig und verspielt verschiedenen Nymphen hinterher. Das ist schön, rührend, aber kaum erotisch. Schließlich erobert der Faun den Schleier einer Nymphe, trägt ihn auf einen einsamen Felsen und liebkost ihn sehnsüchtig in lieblicher Abgeschiedenheit. Zu guter Letzt vollführt sein Unterkörper einige unmissverständliche Bewegungen in den Schleier hinein, in die sich möglicherweise mehr als nötig hineindeuten lässt. Dies tat denn auch Le Figaro, der eine Kampagne gegen die Darbietung lancierte, infolge derer die Polizei und die Staatsanwaltschaft die Ballets Russes bezichtigten, auf der Bühne einen Geschlechtsakt vorgeführt zu haben. Mit einem Schleier!
Blieb gespannt abzuwarten, wie sich der Skandal dieses Mal entwickeln würde und ob Strawinsky wie ein Jahr zuvor Debussy die Gerichte beschäftigen würde. Die jüngste Aufführung hatte den möglicherweise erotischen Inhalt ebenso symbolisch präsentiert wie damals die Kopulation mit dem Schleier. Die jungen Männer und Frauen hatten gespielt und sich gebalgt wie alle unerfahrenen jungen Leute, die ihre erotische Sehnsucht nicht besser ausdrücken können. Was die Sache nicht besser machte, denn dadurch wurde das Publikum auf unpassende, um nicht zu sagen unsittliche Gedanken gebracht. In London überraschte diese Art der Kunstkritik durch die Dickköpfe der Times und des Telegraph nur wenig, aber hier in Paris war sie schon sehr erstaunlich.
Das Théâtre des Champs-Élysées lag in der Nähe des Triumphbogens, und nachdem sie sich ein Stück von den sich immer noch streitenden Zuschauern entfernt hatten, wurden Albie und Sverre wieder einmal von dem Gefühl ergriffen, landesflüchtige Engländer in der Hauptstadt der Kunst zu sein. Sie fühlten sich nicht mehr von Feinden umgeben, seit der Hass der englischen Öffentlichkeit sich immer mehr gegen Deutschland und alles Deutsche richtete. Und seit Neuestem gegen die Iren, die ihre Selbstständigkeit forderten, ein Begehren, das alles überschattet hatte und im Augenblick die größte Bedrohung für die Einheit des Empire darstellte.
Das Jahr 1912 war ein fürchterliches Jahr gewesen. Bildende Künstler, Schriftsteller und Dichter hatten sich in zwei
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