Die Brueder
Begegnung mit den verschiedenen Stilrichtungen und Temperamenten sei. Die Erkenntnis, dass sich seine Fähigkeiten mit jenen der anderen einschließlich jener des Meisters messen konnten, war eine Erlösung für sein Selbstbewusstsein. Er besaß das handwerkliche Geschick und musste nur noch seine Gabe verbessern, seinen Impulsen, ohne zu zögern, zu folgen, jeden noch so kleinen Einfall ernst zu nehmen und ihn sofort auf der Leinwand auszuprobieren.
Trotzdem wollte er die, wie er sie nannte, Restauration der untergegangenen afrikanischen Ausstellung fertigstellen. Schließlich repräsentierte sie eine wichtige Periode seines Lebens und schien ihm vom Meeresboden zuzurufen.
Wenn er damit fertig war, würde er die Freiheit genießen.
Was Albie betraf, entsprang das Gefühl neu gewonnener harmonischer Ruhe vor allem der Gewissheit, dass alle Wunden inzwischen verheilt waren und sowohl die zermürbende Eifersucht als auch die Gewissensqualen der Vergangenheit angehörten. Diese Gewissheit auch auszusprechen stellte für ihn ein fast traumähnliches Erlebnis dar.
Außerdem hatte sich Albie endlich mit seiner Rolle in der menschlichen Komödie ausgesöhnt. Er war und blieb Großunternehmer in der Branche Landwirtschaft. Noch bis vor Kurzem hatte er sich dieser Tätigkeit geschämt, weil sie so trivial und materialistisch war. Aber die Überschüsse, die Manningham inzwischen erwirtschaftete, konnten so viel sinnvolleren Zwecken als Dinnerpartys zugeführt werden. Er würde Ausstellungen finanzieren und jungen Künstlern helfen können. Dazu war nur eines nötig, nämlich sich endlich von dem im 19. Jahrhundert vorherrschenden Bild des armen, leidenden Künstlers, des Schriftstellers, der in seiner Dachkammer hungerte, und des Malers, der sich vor Verzweiflung sein Ohr abschnitt, zu lösen.
Die Sozialisten verachteten womöglich die Rolle des Mäzens, aber während man darauf wartete, dass sie eine neue Weltordnung durchsetzten und einen neuen Menschen schufen, war es eine gute Sache, die Überschüsse zur Unterstützung der Kunst zu verwenden und auf diese Weise die Welt zu bereichern. Dies würde jetzt und in Zukunft Albies Lebensaufgabe darstellen, derer er sich nicht zu schämen brauchte.
Sverre fiel die Aufgabe zu, die Welt schöner zu gestalten. Ein gerader Weg inneren und äußeren Friedens lag vor ihnen. Die hasserfüllte Kriegspropaganda der letzten Jahre war verstummt. Sogar in London.
Der Rektor hatte mit seiner Rede am Examenstag in Dresden recht gehabt und recht behalten. Das 20. Jahrhundert war hinsichtlich der technischen Entwicklung zu hochstehend, als dass ein längerer Krieg möglich gewesen wäre. Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert des Friedens und der schönen Künste. Es war ihr Privileg, in der neuen humanistischen Welt eine Lebensaufgabe zu haben.
IX – Der Mob in St. James’s
London, 1916
Der Überfall vor dem St. James’s Theatre zwang sie, London für absehbare Zeit zu verlassen, zumindest solange der Krieg andauerte.
Rückblickend ließ sich vielleicht feststellen, dass es ein Fehler gewesen war, die falsche Art von Theater zu besuchen.
Aber wer wusste schon, welches das richtige war.
Die vielen neuen, von den Behörden empfohlenen Theaterstücke mit erbaulichem Inhalt bildeten natürlich eine Ausnahme. Dort endete der Abend immer damit, dass das Publikum »God Save the King« sang.
In diesen erbaulichen Stücken ging es in der Regel um Patriotismus oder den Mangel an Patriotismus, das beliebteste Stück hieß Der Mann, der zu Hause blieb und handelte dem Titel gemäß von einem Mann, der seltsamerweise zögerte, sich als Freiwilliger zu melden, und somit Schande und schweres Leiden über seine Frau und Kinder brachte. Vom Publikum wurde erwartet, dass es über derart unzulängliche Männer, die sich ihrer Pflicht England und dem Abendland gegenüber entzogen, lachte und sich empörte. Für solche Feigheit wurden normalerweise zwei Gründe genannt. Entweder war der Waschlappen politisch suspekt und besaß einen deutschen Akzent, oder seine sexuellen Neigungen waren fragwürdig, was durch gezierte Gesten und einen wackelnden Hintern unterstrichen wurde.
Albie und Sverre wären niemals auf die Idee gekommen, ein derartiges Stück zu besuchen, nicht einmal zu Studienzwecken oder um sich Albies Auffassung darüber bestätigen zu lassen, was geschah, wenn die Kunst von der Politik vergiftet wurde.
Klassisches Theater war ebenfalls akzeptiert. Shakespeare galt
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