Die Brueder
noch sein »lieber Freund« die Sache Englands unterstützten, beide hegten bewiesenermaßen Sympathien für Deutschland und hätten Cambridge verlassen, weil sie es vorgezogen hatten, ihr Examen in Dresden abzulegen. Die Entrüstung der Menge sei höchst verständlich gewesen, umso mehr, weil ein Zuschauer gerufen habe, Lord Albert Fitzgerald sei Sodomit und sein deutscher Freund sein Liebhaber.
Ob diese Behauptung auch zutreffe, darüber könne sich der Reporter der Daily Mail nicht äußern. Die Zeitung, hieß es, hüte sich davor, Lord Albert Fitzgerald irgendeines Verbrechens zu bezichtigen.
Eine der interviewten Aktivistinnen war in dieser Hinsicht weniger zurückhaltend. Ihre indirekten Unterstellungen waren jedoch nicht misszuverstehen. Stolz berichtete sie, wie sie weiße Federn an Feiglinge verteilt hätten und dass ihr Männer mit unaussprechlichen Gewohnheiten ganz besonders suspekt seien, »da die Zahl der Pazifisten und Landesverräter in diesen Kreisen besonders hoch sind«.
Später am selben Tag verteilten entweder die Aktivistinnen der WSPU oder andere Kriegstreiber anonyme Flugblätter mit Albies und Sverres Steckbriefen und ihrer Gor don-Square-Adresse sowie einer genauen Wegbeschreibung.
Am gleichen Abend fand sich eine Menschenmenge, hauptsächlich Männer in Ausgehuniform, auf dem Gordon Square ein und begann das Haus mit Steinen zu bewerfen. Es dauerte erstaunlich lange, bis die Polizei eintraf, und drei Beamte wurden bei dem Versuch, die Menge zu zerstreuen, misshandelt und bezichtigt, Handlanger der Sodomiten und Landesverräter zu sein. Nachdem sich die Menge zerstreut hatte, waren alle Fensterscheiben im Erdgeschoss zum Gordon Square zertrümmert.
Auch über diesen Vorfall berichtete die Daily Mail ausführlich, dieses Mal mit einem Foto Albies und einem Foto Sverres, das, sah man einmal von der fehlenden Pickelhaube ab, mehr der Karikatur eines Deutschen, wie sie zuhauf in den Leitartikeln der Zeitungen zu sehen waren, entsprach.
Ratlos und niedergeschlagen versammelten sich die engsten Bloomsbury-Freunde bei Albie und Sverre im Atelier im Obergeschoss. Keiner von ihnen befürwortete den Krieg, aber pazifistische Ansichten waren in England nicht verboten, zumindest nicht, was Frauen betraf. Für Männer veränderte sich die Lage nun vielleicht, da die allgemeine Wehrpflicht eingeführt werden sollte. Der Bedarf an Kanonenfutter in Belgien und Frankreich schien unbegrenzt zu sein. Bislang hatten sie sich jedoch unbehelligt auf die Straße wagen können. Wie es damit aussah, nachdem die Daily Mail Albie und Sverre öffentlich als Freunde Deutschlands, Landesverräter und Sexualverbrecher präsentiert hatte, war nun die Frage.
Die Lage war prekär. Zwar wachten zwei uniformierte Polizisten vor der Tür, aber sie würden nicht ewig dort sein. Im Moment verhielt der Mob sich ruhig, aber was würde wohl geschehen, wenn England die nächste Schlacht verlöre oder ein deutsches U-Boot ein ehrwürdiges Schlachtschiff versenkte?
Margie und Vanessa hatten mit angesehen, wie zwei »deutsche« Familien, genauer gesagt zwei Familien mit deutschen Nachnamen, in der Nähe der Omega Workshops gelyncht worden waren, nachdem die Skandalblätter längere Zeit vor dem »inneren« deutschen Feind gewarnt hatten, der durch deutsche Bäcker verkörpert wurde, denen unterstellt wurde, sie vergifteten das Brot. Viele der deutschstämmigen Londoner waren Bäcker.
Eine Menschenmenge hatte sich vor der Bäckerei der »Deutschen« versammelt und war von Agitatorinnen derart aufgewiegelt worden, dass sie schließlich das Geschäft gestürmt und alles kurz und klein geschlagen hatten. Dann waren sie in die Wohnungen eingedrungen, hatten Frauen und Kinder misshandelt, die Männer erschlagen, alles von Wert auf die Straße getragen und dort zertrümmert oder gestohlen.
Die Polizei war erst eingetroffen, als alles vorüber war. Keiner der Plünderer war gefasst worden, von den Mördern ganz zu schweigen. Die Zeitungen hatten über die Sache nicht berichtet.
Die Freunde, die sich bei Albie und Sverre einfanden, diskutierten eifrig über wechselnde Themen und neue schreckliche Geschichten, die den allgemeinen Pessimismus nur noch verstärkten. Alle Überlegungen mündeten in der alles überschattenden Frage, ob man sich, solange dieser militaristische Wahnsinn grassiere, überhaupt in London aufhalten könne.
»Das kommt ganz auf die Situation jedes Einzelnen an«, meinte Bertrand, der sich als Letzter zu ihnen
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