Die Brueder
musste er versuchen, in ihrem Porträt einzufangen. Dafür war dieses besondere Nachmittagslicht in ihren Augen erforderlich. Ohne das Licht in ihren Augen würde Margrete nicht wahrhaftig werden, weder auf die Art, die ihr, noch auf die, die ihm vorschwebte.
Als sie seine detaillierteren Skizzen, die inzwischen mehr das Aussehen von richtigen Bleistiftporträts hatten, genauer betrachteten, waren beide nicht recht zufrieden. Die Skizzen waren gut, aber nicht so gut, wie sie sich beide das erhofft hatten. Etwas fehlte, die Bilder schwiegen.
»Könnten wir nicht spaßeshalber etwas Neues ausprobieren?«, schlug Sverre vor, aber Margrete durchschaute ihn sofort.
»Du meinst, ich soll aus dem Fenster schauen?«
»Ja, in etwa. Wir könnten es zumindest versuchen?«
In der folgenden Nacht arbeitete er, jetzt mit Ölfarben, wie besessen. Er malte drei Varianten ihres Gesichts in dem speziellen Licht, das ihren Augen mehr Leben verlieh. Die übrige Komposition deutete er nur skizzenartig an, damit eine Vorstellung davon entstand, wie das fertige Porträt einmal aussehen könnte. Für Albies fürchterliche Erzählung blieb keine Zeit, und das lag nicht nur daran, dass er sich vor der Fortsetzung fürchtete. Er musste Margrete überzeugen, und jetzt bot sich die Gelegenheit dazu.
»Gute Güte!«, rief sie am nächsten Nachmittag, als sie seine Entwürfe sah.
Sverre konnte ihre Reaktion nicht recht deuten. Das machte ihn etwas nervös.
Lange und eingehend betrachtete sie die drei Varianten erst aus der Nähe, dann auf Abstand. Das ließ hoffen. Schließlich nickte sie, erst langsam, dann energischer, als hätte sie einen Entschluss gefasst. Sie legte die Ölskizzen vorsichtig auf der grünen Schreibtischplatte ab, ging zu ihm und küsste ihn erst auf die linke, dann auf die rechte Wange.
»Verzeih«, sagte sie, als sie wieder am Schreibtisch Platz nahm. »Ich hatte unrecht, und du hattest recht. Das bin sehr viel mehr ich. Man erkennt mich sofort, zumindest tue ich das.«
»Der Stift in deiner rechten Hand gleicht das, was du schmachten nennst, mehr als aus«, plauderte Sverre. »So denkt man, dass du gerade eine Idee notieren willst, du schaust hoch und grübelst, niemand …«
»Ich gebe mich geschlagen«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Hast du möglicherweise genauso recht, was meine Frisur betrifft?«
»Ja, allerdings.«
»Dann hast du jetzt die Gelegenheit, mich zu überzeugen!«
Er musste sich sammeln. Er hatte sie fast so weit. Aber Margrete besaß ein hoch entwickeltes Gespür für sprachliche Nuancen. Fing er an zu stottern oder sagte er etwas Falsches, war vielleicht alles zerstört.
»Hast du etwas dagegen, wenn ich auf Deutsch antworte?«, fragte Sverre. Sie hatten sich darauf geeinigt, nur während der Konversationsstunde Deutsch zu sprechen, damit er sein Englisch verbessern konnte.
»Natürlich nicht!«, erwiderte sie.
Jetzt kam es also darauf an. Ihre zu einem Knoten hochgesteckten Haare drückten Disziplin, Zurückhaltung und intellektuellen Ernst aus, waren jedoch gleichzeitig ein Ausdruck für das Vorurteil, dass eine Frau, die als Mensch wahrgenommen werden wollte, traditionell unfeminin zu sein hatte. Wieso musste eine Frau ihr Haar hochstecken, um ein anspruchsvolles Buch zu lesen? Eine echte Intellektuelle konnte auch im Morgenmantel lesen, wenn sie wollte. Diese Möglichkeit – oder eher Unmöglichkeit – hatten sie ja schon im Scherz in Betracht gezogen.
Außerdem hatte er sie in den vier Monaten, die er sie jetzt kannte, nie mit Haarknoten gesehen. Warum also nicht wie immer aussehen, statt sich zum Lesen, im übertragenen Sinne, ein Büßerhemd anzulegen? So ein Porträt sei viel authentischer und würde obendrein einen viel größeren Respekt vor der Literatur ausdrücken, da die Literatur allen Menschen gehöre, zwar nicht als Besitz, jedoch als Möglichkeit. Deswegen solle sie ihre Haare so tragen wie immer, wenn sie ein Buch lese und sich nicht zufällig vor den Augen eines Porträtmalers befinde.
Während er ihre Antwort abwartete, hielt er den Atem an. Ihr Bild könnte das beste und schönste Gemälde werden, das er je geschaffen hatte, wenn sie mit Ja antwortete.
Sie kaute an dem Bleistift, der zur Komposition gehörte, und schien nachzudenken, ehe sie auf Deutsch antwortete.
»Was ich an dir liebe, Herr Diplomingenieur Lauritzen, ist nicht nur dein wunderbares Talent, sondern auch deine Gabe, dieses zu vermitteln. Mit deiner Hilfe
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