Die Brueder
nur ein Prozent von ihnen Zeit und Mittel besaßen, richten konnte. Die neue Technik würde einen neuen, gleichberechtigteren Menschentyp schaffen. Vermutlich würden die Ideen der deutschen Sozialisten siegen, alle Vernunft sprach dafür. Trotzdem war es beunruhigend, dass so viel einfältige Bösartigkeit inmitten einer wohlorganisierten, modernen Gesellschaft gedeihen konnte. Dass all die Londoner Redakteure, die ja doch respektable Bürger sein mussten, nach allen Regeln der Kunst ein anständiges Leben führten und nicht als die Bestien in Erscheinung traten, die sie waren, wenn sie ihren Hass zu Papier brachten und ihren Lesern entgegenschleuderten. Diese guten, anständigen, maßvollen, respektablen Bürger repräsentierten die politische Macht. Was geschah, wenn die Ingenieurswissenschaften dieser politischen Mehrheit, also der Macht, Maschinen lieferten, die verblüffende Dinge leisten konnten? Beispielsweise ein Pflugmobil, das überall vorwärtskam? Würden sie es in einen Panzer umwandeln und auf dem Schlachtfeld einsetzen? Und wie sah die Zukunft der elektrischen Motoren aus? Würde die politische Macht sie als Hinrichtungsmaschinen einsetzen, um den Gesellschaftsorganismus vor der Degeneration zu bewahren?
Nein, das waren bloße Albträume. Das englische Bürgertum mochte verrückt sein, in Deutschland sah es anders aus. Albies Vater hatte ganz recht gehabt, dass in Deutschland Europas Morgenröte zu finden sei. Sollten die verrückten Engländer doch im eigenen Saft schmoren, wie man zu sagen pflegte.
*
Margrete fand die Idee, einen Stift in der Hand zu halten, bezaubernd und lachte, als Sverre meinte, er habe sich erst eine Zigarette vorgestellt. Sie rauchte zwar nicht, aber vielleicht war es eine gute Idee, damit anzufangen. Dann könnte sie sich nach dem Essen zu den Herren gesellen? Sie lachten beide über den komischen Gedanken. Sverre skizzierte sie rasch im Hausmantel, mit blasierter Miene, halb geschlossenen Lidern und einer Zigarette zwischen den Lippen.
Sie wählte eine von Sverres Skizzen, die er selbst für die beste hielt. Dann nahm sie Platz, den teuren Goldschmuck um den Hals, aber noch immer mit hochgestecktem Haar. Sverre begann zu arbeiten.
Sie hielt einen Stift in der Hand und war in ein Buch vertieft. Sie las wirklich. An der Pose war nichts auszusetzen, aber da sie in das Buch schaute, bekam der Betrachter keinen Kontakt zu ihr.
Sverre wollte zu ihren Augen vordringen, wagte das aber nicht zu sagen, da er mit Einwänden rechnete. Sie saß nicht dort, weil sie sich vor Sehnsucht verzehrte, sie las ernsthaft.
Anderthalb Stunden später – die Sonne fiel direkt ins Zimmer – bat er sie, aus dem Fenster zu schauen und sich ihm etwas zuzuwenden. Das tat sie.
Als das Licht auf ihre braunen Augen fiel, die dieselbe Farbe hatten wie Albies, war ihm klar, dass er dieses Bild nur für sich malen würde. Erst jetzt sah er trotz ihrer prinzipiellen Anstrengungen, genau das zu verbergen, wie schön sie war. Nicht schön im konventionellen Sinne, denn an Schönheit wurde sie von ihrer blondlockigen, blauäugigen und äußerst selbstbewussten kleinen Schwester Penelope übertroffen. Margrete war eine klassische Schönheit, die mehr in der Art lag, wie sie sprach und dachte, als in den Linien ihres Gesichts und ihren Körperformen, die sie wiederum im Unterschied zu ihrer kleinen Schwester nach besten Kräften zu verbergen trachtete.
Diese Beobachtung ließ Sverre in ganz neuen Bahnen denken. Welche Frauen hatte er in Dresden besonders geschätzt? Er hatte immer eine gewisse Scheu vor ihnen empfunden, aber besonders ihre Augen und ihre Sprache waren ihm wichtig gewesen. Er hatte bis zum Überdruss seine Kommilitonen sagen hören, was ihnen als Erstes an einer Frau auffiel, verschiedene Körperteile und ihre Üppigkeit etwa. Für ihn war eine schöne Frau eine gebildete Frau, die sich ausdrücken konnte. Im konventionellen Sinne schöne Frauen in seinem Alter schüchterten ihn ein. Frauen, die sich ungeachtet ihres Alters sprachlich mitteilten, übten die umgekehrte Wirkung auf ihn aus. Er hatte beispielsweise mit größtem Vergnügen mit etlichen von Frau Schultzes Freundinnen Umgang gepflegt, von denen einige verwitwet gewesen waren, hatte das hin und wieder sogar richtiggehend erregend gefunden. Interessant.
Margrete verfügte über diese innere Schönheit, um es konventionell, aber in Ermangelung passenderer Worte auszudrücken. Das sah Sverre, wenn sie miteinander sprachen. Das
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