Die Brueder
hoch in die Bibliothek.
Er hatte dort aufgehört, wo der offenbar einzigartige Schriftsteller Wilde, der bedauerlicherweise auch Albies unglückliche Liebe gewesen war, wegen besonders unanständiger Handlungen zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde. Was gab es danach noch zu sagen? Wieso war noch so viel Text übrig?
Der Abschnitt, der auf die Verurteilung Oscar Wildes folgte, war erschütternd. Es ging um den Hass, die Schadenfreude und den Irrsinn, die in der Londoner Presse zum Ausdruck gekommen waren. Albie zitierte fürchterliche Dinge.
Man bezeichnete Oscar Wilde als Ausländer, nicht nur, weil er offenbar Ire war, sondern auch, weil er als Fürsprecher der degenerierten französischen Kultur galt.
Degenerierte französische Kultur?
Der Daily Telegraph wusste sogar Beispiele zu nennen, dass Mr. Wilde nicht nur ein typischer Vertreter des französischen Dandytums war, sondern ebenso der »lasterhaften französischen Kunst wie beispielsweise des Impressionismus«.
Sverre musste das Ganze noch einmal lesen, weil er glaubte, sich verlesen zu haben. Édouard Manet, Paul Cézanne, Auguste Renoir, Edgar Degas und Claude Monet wurden kollektiv verdammt. Wer sich erdreistete, die größten Künstler der Gegenwart zu bewundern, beging laut Londoner Presse Landesverrat. Und zwar verriet er nicht nur England, sondern, was noch schlimmer war, das gesamte British Empire.
Herbert Spencer wurde abgestaubt, ein Philosoph, von dem Sverre bislang nur als Autor des »Überlebens des Stärkeren« gehört hatte. Er führte den Beweis, dass nicht nur chronisch Kranke, Arme, Geisteskranke, politisch Unzufriedene und inzwischen auch sexuelle Abweichler »degeneriert« waren, sondern alle Menschen, die sich außerhalb der Norm bewegten. Somit konnten auch Genies degeneriert und damit gefährlich für die Gesellschaft sein. Genetisch oder möglicherweise auch moralisch waren die Genies ebenso gefährlich wie Schwerverbrecher und die schlimmsten Kretins. Das galt insbesondere für Schriftsteller. Und zwar nicht nur für Oscar Wilde. Es gab unzählige, gefährliche Schriftsteller, die die Gesellschaft vergifteten, wie beispielsweise Ibsen und Kierkegaard, Franzosen wie Baudelaire, Paul Verlaine, Stéphane Mallarmé und Edmond de Goncourt oder englischsprachige, besonders gefährliche Autoren wie Byron, Keats, Shelley und Poe.
Ein Norweger, dachte Sverre erschüttert. War Ibsen eine Gefahr für die Gesellschaft? Vermutlich, für die Reaktionäre stellte er mit Ein Volksfeind und Ein Puppenheim jedenfalls ein großes Ärgernis dar. Aber »degeneriert«? Da befanden sich Albie und er also in unerwartet guter Gesellschaft. Ganz zu schweigen von den Künstlern, die als ebenso gefährlich wie die sexuellen Abweichler galten.
Ohne die wörtlichen Zitate mit Datum und Seitenzahl aus der Londoner Presse hätte Sverre Albies Bericht für Fieberfantasien gehalten.
Im Übrigen war auffällig, dass sich unter den europäischen Künstlern und Schriftstellern keine Deutschen als den Verführer der englischen Jugend befanden. Kannten die englischen Journalisten etwa die deutsche Kultur nicht? Nein, unmöglich. Oder erkannten die englischen Journalisten die deutsche Kunst als nicht degeneriert an?
Sverre wollte weder Whisky trinken noch zu Bett gehen, weil er ohnehin nicht würde einschlafen können. Albie hatte wirklich eine unerhörte Geschichte zu Papier gebracht, eine Geschichte, wie sie von der Gegenwart nicht wahrgenommen wurde und von der Nachwelt nur allzu leicht vergessen werden würde. Aber da Albie die Vorarbeiten geleistet hatte, würde früher oder später ein Akademiker, Journalist oder Schriftsteller diesen Irrsinnsausbruch bei der Londoner Presse im Jahre 1895 detailliert beschreiben können. Dann war mit einem harten Urteil der Nachwelt zu rechnen.
Vorausgesetzt natürlich, dass dieser Irrsinn vorübergehen und die Nachwelt ihn genauso betrachten würde, wie er es tat. Die Alternative, dass in Zukunft diese Sichtweise die Normalität darstellen würde, wäre fürchterlich. In diesem Falle würde die eine Hälfte der Menschheit die andere ausrotten und gleichzeitig alle Kunst und Schönheit im Leben auslöschen. Dantes Höllenvision würde Wirklichkeit werden.
Nein, unmöglich. Sie befanden sich im 20. Jahrhundert. Die Technik würde den Menschen von so viel Schufterei befreien, dass er seine Energie auf das Schöne im Leben, nach dem alle Menschen in ihrem Innersten strebten, für das aber augenblicklich vielleicht
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