Die Brueder
außerdem in perfektem Deutsch, das auf höfliche, ironische Untertreibung verzichtete und direkt zur Sache kam.
Er hätte viel dafür gegeben, diese modernistische Theaterreplik als Text vor sich liegen zu haben, jetzt musste er eine Weile nachdenken und sich konzentrieren.
In diesem Augenblick pfiffen ein paar besonders schwere Sturmböen ums Haus, und ein Knacken in den Balken über ihm unterbrach seine Gedanken, die sofort wieder zu Margie und Sverre dort draußen im Schneesturm wanderten, der jetzt schon über eine Stunde mit unverminderter Stärke andauerte.
Nein, weg damit. Von Neuem beginnen. Was hatte sie eigentlich bei ihrem Ausbruch gesagt? An den Anfang konnte er sich noch am deutlichsten erinnern:
»Während Sie darüber sprechen, Kunst zu verbieten, meine Herren, sehen Sie seltsamerweise aus, als besäßen Sie die Mittel dazu und Einblicke in das Problem. Aber soweit ich verstehe, ist dies ein Irrtum, der möglicherweise darauf beruht, dass es einigen von Ihnen gelungen ist, sich mit einer gewissen Eleganz zu kleiden. In Wirklichkeit sind Sie nackt und außerdem Waschlappen, wenn ich aufrichtig sein darf.«
So ungefähr hatte sie begonnen. Unfassbar unverschämt, strahlend dramatisch. Aber wie hatte sie sich dann dem Wesentlichen genähert? Ohne Umschweife.
»Was verboten ist, und zwar nicht nur in der Kunst, sondern auch im täglichen Leben und, wie ich vermute, auch in Norwegen, ist das private Liebesleben einiger Herren. Aber darüber sprechen Sie seltsamerweise überhaupt nicht, das scheint Sie gar nicht zu bekümmern. Sie scheinen nicht zu wagen, dieses Verbot zu verdammen. Darauf sollten Sie Ihren juristischen Scharfsinn richten, Ihre humanistische Bildung, Ihr Wissen über die Bedingungen des Lebens. Aber das tun Sie nicht. Stattdessen zerbrechen Sie sich den Kopf darüber, ob das vielleicht ehrlichste Theaterstück, das in Ihrer Sprache je verfasst wurde, verboten werden sollte. Als sich Wagner vor bald sechzig Jahren mit demselben Thema beschäftigte, ich spreche natürlich von seiner letzten Oper Parzival, musste er es diskret verpacken, um der Zensur zu entgehen. Und das liegt über ein halbes Mannesalter zurück. Dass Sie sich nicht schämen! Ich muss mich jetzt wirklich dringend empfehlen!«
Ungefähr so hatte sie sich ausgedrückt, und ihre Worte hatten großen Eindruck gemacht. Allerdings war das Publikum eher verblüfft als beschämt gewesen. In dem eben noch lärmenden, dunklen und verqualmten Clublokal herrschte vollkommene Stille.
Der theatralische Effekt wurde dadurch verstärkt, dass sie, nachdem sie gesagt hatte, sie wolle sich empfehlen, sich auch gleich erhob.
Sverre und ihm blieb also nichts anderes übrig, als ebenfalls aufzustehen.
Immer noch war es totenstill im Saal. Die Männer, junge, schöne, ältere und hässliche, saßen wie versteinert da, als hätte ihnen Margie ein abgeschlagenes Medusenhaupt serviert.
Albie tat, was er tun musste, streckte den Arm Richtung Tür aus, verbeugte sich und führte Margie aus dem Saal. Sverre schloss sich ihnen an. Sie erhielten ihre Mäntel, ohne dass jemand etwas gesagt hätte. Nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, schwiegen sie immer noch. Sekunden später ertönte hinter der Tür ein gewaltiger Lärm, der auch noch durch das dicke Eichenholz zu hören war.
Schweigend gingen sie, Margie in der Mitte von den beiden Männern flankiert, rasch hundert Meter weit, bis sie die inzwischen vollkommen menschenleere Hauptesplanade der Stadt erreicht hatten.
Sverre blieb als Erster stehen, und da sie sich untergehakt hatten, hielten sie plötzlich alle schweigend auf der ausgestorbenen Straße inne und sahen sich einige Sekunden lang an. Dann begannen sie zu lachen, und Sverre und er selbst küssten Margie abwechselnd und lobten sie.
Als sie in ihr Hotel zurückkamen, herrschte in dem bodenständigen Restaurant immer noch Betrieb. Es war allerdings nur halb voll, und sie bekamen deswegen ohne Schwierigkeiten einen Tisch. Albie bestellte Champagner.
Beglückt über das Erlebte, leerten sie das erste Glas in einem Zug, obwohl gar nicht ohne Weiteres zu erklären war, was genau sie in die gehobene Stimmung versetzt hatte, schließlich war Kristianias geheime Gesellschaft Gleichgesinnter nicht unbedingt als Feindeslager zu betrachten.
Margie erklärte, bei ihrem Auftritt habe es sich um ein kleines Stück polemischer Kunst gehandelt. Sie habe modernistisches und in höchstem Grad politisches Theater
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