Die Brueder
aufgeführt, das Ibsen mit Freude erfüllt hätte. Diese Argumente erstickten jeden Widerstand, das sei die Kraft der Kunst!
Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte Albie sich von seiner eigenen Schwester abgekanzelt. Natürlich in erster Linie in Bezug auf die Frage der Trennung von Kunst und Politik, die er befürwortete. Sverre schien sich nicht entscheiden zu können und pflegte, wenn er sich bedrängt fühlte, auf Goyas pazifistische Darstellungen des Krieges hinzuweisen. Diese tat er selbst als Journalismus aus einer Zeit ab, als der Journalismus noch so primitiv war, dass sich selbst ein so großartiger Künstler wie Goya hin und wieder der guten Sache verschreiben musste.
Aber das war keine Diskussion, die er jetzt beim Champagner wieder aufleben lassen wollte, es war besser, sich über Margies gelungenes Improvisationstheater zu freuen, den Mund zu halten und nachzuschenken.
Solche Augenblicke waren die besten, es war beglückend, Kunst von allen Seiten zu betrachten, sie mit der Kunst anderer Zeiten zu vergleichen, sie aber auch in die eigene Zeit zu übertragen. Sie lebten in einer Zeit, in der sich die Menschheit erholte, in der alle Kriege, zumindest in der zivilisierten Welt, abgeschafft waren, in der die Arbeiterfrage bald durch technische Fortschritte ihre Lösung finden und in der es in der Politik bald nur noch um unerhebliche praktische Belange gehen würde. In solchen Zeiten kam der Kunst auf der Suche nach Schönheit und Licht eine besondere Bedeutung zu.
Zumindest argumentierte Albie so, wenn er die Ansicht vertrat, dass die Kunst keinen anderen Zweck habe, als eben Kunst zu sein. Dieser Ansicht waren auch die meisten Bloomsbury-Freunde, er vertrat also keineswegs einen originellen Standpunkt. Dass Margie der Minderheit angehörte, die vehement widersprach, hielt er für die übliche Rivalität unter Geschwistern.
Offenbar war er eingeschlafen. Wahrscheinlich aus reinem Selbstschutz, denn eigentlich war er nicht sonderlich müde gewesen. Er hatte dagelegen und sich gezwungen, an Dinge zu denken, die nichts mit Margie und Sverre im Schneesturm zu tun hatten, wobei er sich in der Diskussion über Wagners Parzival verfangen hatte, ohne dass es ihm recht gelingen wollte, sich ihre Worte nach der vierten Flasche Champagner im Theatercafé, so hieß das Restaurant, in Erinnerung zu rufen, denn da waren sie ziemlich angeheitert gewesen, um es einmal vornehm englisch auszudrücken. Unter anderem war es darum gegangen, dass der Speer, den der unbefleckte Parzival in Empfang nimmt, ein deutlich Freud’sches Phallussymbol war, allerdings noch vor Freud. Aber das war ihm auch vollkommen egal, da das Wetter während seines Nickerchens umgeschlagen war. Jetzt schien die Sonne wieder strahlend. In der Ferne sah er graue Wolken über dem Hardangergletscher, im Übrigen war der Himmel völlig wolkenlos.
Er tastete auf dem Nachttisch nach seiner Uhr. In diesem Landstrich, in dem die Sonne im Sommer nur gegen Mitternacht für ein Stündchen kurz verschwand, war es unmöglich, die Zeit zu bestimmen, indem man einfach nur aus dem Fenster schaute.
Es war kurz vor sieben Uhr. Also würde bald das Abendessen serviert werden. Trotzdem war es im Haus noch still. Keiner der etwa ein Dutzend Gebirgswanderer war bislang zurückgekehrt.
Albie zog rasch den Tweedanzug an, den er draußen im Schneesturm getragen hatte, wechselte jedoch den Schlips . Der Stoff war immer noch etwas feucht, aber es hatte wenig Sinn, andere Kleider hervorzusuchen, da er sich ohnehin gleich zum Dinner umziehen musste. Das war eine weitere Beschwörungsformel. Bald würden sie zu Tisch gehen und sich vorher wie immer umkleiden. Alles war wie immer.
Albie lieh sich ein Fernglas, postierte sich auf dem Bahndamm und suchte die Gebirgshänge ab. Ganz oben hatte sich die Schneedecke etwas ausgedehnt, aber um das Hotel herum sah alles so aus wie vor dem Unwetter. Der Schnee war wieder geschmolzen, die weißen, gelben und lila Blumen, deren Namen er nicht kannte, hatten sich wieder aufgerichtet, als sei nichts geschehen.
Recht bald entdeckte er etwa eine Meile entfernt die erste Gruppe zurückkehrender Wanderer, vier Personen, die vollkommen unbeeindruckt von Unwetter und Schnee zu sein schienen. Sie schritten munter aus, zwei Männer hatten ihre Jacken ausgezogen. Es sah aus, als hätten sie es eilig, weil sie sich ungern zum Abendessen verspäten wollten.
Wenig später entdeckte er Sverre, schwer beladen mit einem großen Rucksack,
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