Die Brueder
reinste Märchenstunde.
Sie wusste über die verwandtschaftlichen Verhältnisse Bescheid, denn im Laufe der Jahre war ihr die Geschichte von den drei bettelarmen Brüdern von einer Insel bei Bergen zu Ohren gekommen, die nach Dresden geschickt worden waren, um Eisenbahningenieure zu werden und nach dem Examen beim bislang größten Bauprojekt Norwegens mitzuarbeiten. Aber nur einer der Brüder, Lauritz, war nach Norwegen zurückgekehrt.
Nachdem sich Lauritz und Lady Alice angefreundet hatten, war seltsamerweise immer nur von einem Bruder die Rede gewesen, von Oscar, der es in Afrika zu Reichtum gebracht hatte.
An dieser Stelle musste Lady Alice die Erzählung unterbrechen, damit sich Sverre von dieser überraschenden Neuigkeit erholen konnte.
Aber ja, so sei es.
Und auch für Lauritz war der Reichtum ein Segen gewesen, vermutlich sogar ein noch größerer als für seinen Bruder Oscar in Afrika. Sein Leben war wahrhaftig nicht einfach, weil er zwischen seinen Prinzipien und der großen Liebe seines Lebens hin- und hergerissen worden war.
Denn Lauritz hatte sich zwei Ziele im Leben gesetzt. Zum einen, seine Verpflichtungen der Bergenbahn gegenüber bis zum Ende zu erfüllen, zum anderen, eine deutsche Frau namens Ingeborg zu ehelichen. Aber der Vater dieser Ingeborg war von altem Schlag aus jener Art traditioneller Familie, die keine Hochzeit zuließ, ehe Lauritz nicht ein Vermögen vorweisen konnte, was einem staatlich angestellten Ingenieur bei der Bergenbahn unmöglich war. Ebenso unmöglich war es Lauritz aber auch gewesen, seine Pflicht jenem Bauwerk gegenüber zu vernachlässigen, für dessen Durchführung man ihm die Ausbildung finanziert hatte. Insbesondere da sich sein Bruder bereits dieser Pflicht entzogen hatte.
Und aus diesem einen Bruder waren jetzt plötzlich zwei Brüder geworden.
Man musste nicht Sherlock Holmes sein, um zu ergründen, warum Lauritz den dritten Bruder nie erwähnt hatte, der jetzt leibhaftig vor dem Kamin saß. Es war ihnen natürlich klar, dass die beiden Gentlemen in diesem Hotel das Schlafzimmer teilten.
Der älteste Lauritzen-Bruder hatte sich also in eine deutsche Baronin verliebt und der jüngste, Diskretion war in der kleinen, geschlossenen Gesellschaft schließlich nicht mehr nötig, in einen englischen Lord. Die Frage drängte sich auf, wie es um den in Afrika reich gewordenen mittleren Bruder stand? War er mit einer afrikanischen Königin liiert?
Endlich hatte sie Sverre zum Lachen gebracht. Er hatte ihr bis dahin die meiste Zeit mit gequälter Miene zugehört. Die im Laufe der Jahre langsam verheilten Wunden waren wieder aufgerissen worden, und von Neuem machte ihm das Bewusstsein, ein Verräter zu sein, zu schaffen. Dass auch sein mittlerer Bruder ein Verräter war, bot keinen Trost. Sie hatten Lauritz allein, unglücklich verliebt und jeglicher Hoffnung beraubt zurückgelassen.
Ihr Bericht schien Lady Alice seltsam zu befriedigen, was Albie verwunderte. Ihr konnte kaum entgangen sein, welche Verstimmung ihre Indiskretion hervorgerufen hatte. Nicht einmal Margie mit ihren Bloomsbury-Allüren wäre auf den Gedanken gekommen, Freunde oder Bekannte derart zu verletzen. Und hier saß also diese recht hässliche Frau, in dieser Hinsicht das absolute Gegenteil Margies, ansonsten entstammte sie ähnlichen Verhältnissen und hatte dieselbe Erziehung genossen, und wirkte erstaunlich zufrieden über das, was sie erzählt hatte. Absurderweise machte ihr elegantes King’s English die Sache noch unbehaglicher. Schloss man die Augen, sah man eine Frau wie Margie vor sich, öffnete man die Augen, so fiel der Blick auf ein kantiges Gesicht, zu dichte schwarze Brauen, unförmige Kleider und Wanderstiefel.
»Und jetzt komme ich zum glücklichen Schluss«, fuhr Lady Alice vollkommen überraschend fort. Ihre drei Zuhörer richteten sich auf. Lady Alice legte eine Kunstpause ein und zog diese unerträglich in die Länge.
»Während wir hier sitzen«, fuhr sie fort und betonte jedes Wort, »ist Lauritz im Begriff, um die Hand seiner Ingeborg anzuhalten. Und ihr Vater wird sie ihm gewähren. Sie werden sich in einem frisch renovierten Haus in der Allégatan in Bergen niederlassen.«
Sie hielt inne, hob ihr Rotweinglas und lächelte Sverre so herzlich an, dass sie geradezu schön wirkte.
Nun wollten natürlich alle sämtliche Einzelheiten erfahren und sprachen wild durcheinander. Lady Alice lachte.
Die Details taten dem Lauritz-Märchen keinen Abbruch. Im Augenblick nahm er
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