Die Brueder
während Margie fröhlich gestikulierend neben ihm herhüpfte und eine Geschichte erzählte, über die sie beide lachten. Sie wirkten nicht, als hätten sie sich in Lebensgefahr befunden. Er fand es lächerlich, dass er offensichtlich der einzige Hotelgast war, der beinahe sein Leben verloren hätte, höchstens 250 Meter vom Hotel entfernt.
»Was habt ihr nur während des Unwetters gemacht?«, rief Albie, sobald die anderen beiden in Hörweite waren.
»Wir haben uns gegenseitig gewärmt. Du ahnst gar nicht, wie schön es unter ein paar Rentierfellen ist!«, rief Margie zurück.
Ganz offenbar versuchte sie zu scherzen, aber er war nicht amüsiert. Trotzdem konnte er schlecht auf seine eigene Schwester eifersüchtig sein. Ihre Unverblümtheit brachte ihn natürlich hin und wieder in Verlegenheit, aber Eifersucht konnte er sich nicht erlauben. Obwohl es an jenem Donnerstagabend im Club der Stephensschwestern im Nachbarhaus quälend peinlich gewesen war, als Margie ohne Zögern und ohne die geringste Diskretion detailliert und lachend erzählt hatte, wie Sverre sie als vollendeter Gentleman von ihrer Unschuld befreit hatte.
Die Erinnerung daran brachte ihn zum Erröten. Aber so war es nun einmal in Bloomsbury, wo immer die Wahrheit gesagt wurde, ein Preis, den man bereitwillig dafür zahlte, einen Freundeskreis zu haben, der vollkommene Schönheit, Wahrheit und Freundschaft anstrebte. Ja, es waren gute Freunde, obwohl einige ihrer Indiskretionen ihn wirklich schon in verdammt peinliche Situationen versetzt hatten.
»Wir sind hungrig wie die Wölfe und könnten jeder ein ganzes Rentier verspeisen«, sagte Sverre, nachdem er Albie begrüßt hatte.
»Bestens«, meinte Albie und umarmte sie beide. »Es gibt nämlich Renfilet und dazu einen Burgunder. Im ganzen Hotel duftet es schon wie in einem Nomadenlager.«
Lady Alice herrschte uneingeschränkt über die Tischordnung, ihre Zielsetzung war es, dass alle Gäste einander kennenlernten. An diesem Abend saßen die drei mit einem älteren Paar aus Bergen an einem der besten Tische mit Aussicht auf den Hardangergletscher. Wie sich herausstellte, war der Mann Eisenbahningenieur. Er sprach gut Deutsch, war zwei Jahre zuvor in Rente gegangen und somit nicht an der Fertigstellung des Bauprojekts beteiligt, was ihn aus verschiedenen Gründen ärgerte, unter anderem, weil sich die letzten beiden Jahre, nachdem klar gewesen war, dass Zweifler und Nörgler nicht recht behalten sollten, als die einfachsten und erfreulichsten herausgestellt hatten. Im Augenblick wurden die Schienen verlegt, jeden Tag kam man etwa einen Kilometer weiter. Im August würde man Finse erreicht haben, und von dort aus war es nicht mehr weit bis Haugastøl, wo das Projekt beendet wäre. Wer bis August hier oben blieb, konnte zum ersten Mal per Bahn nach Bergen gelangen, allerdings nur mit einer Draisine. Wie seien sie übrigens von Kristiania nach Finse gereist?
Sverre bremste den Redeschwall des Ingenieurs, indem er etwas umständlich von ihrer abwechslungsreichen Reise mit der Eisenbahn, mit Pferdefuhrwerken und zu Fuß erzählte. Es war Sverre anzumerken, dass ihm die Tischgesellschaft und das Gesprächsthema nicht recht behagten. Albie glaubte den Grund zu kennen. Weil Sverre sich vor der Frage fürchtete, von der er nicht wusste, wie er damit umgehen sollte.
Dies geschah jedoch erst sehr viel später am Abend, als Lady Alice die Engländer noch zu einem Glas Whisky Soda vor dem offenen Kamin einlud.
Die anderen Hotelgäste hatten sich zurückgezogen, und nun konnte Englisch gesprochen werden. Sverre wirkte erleichtert.
Aber bereits nachdem der Hotelbesitzer Joseph Klem den Kamin angezündet hatte und sie ein erstes Mal angestoßen hatten, kam Lady Alice rücksichtslos direkt zur Sache.
»Ich muss zugeben, dass es mich etwas verwirrt hat, als wir aus Kristiania eine telefonische Reservierung für Diplomingenieur Lauritzen und Begleitung erhielten«, wandte sie sich an Sverre.
»Das verstehe ich«, räumte dieser ein. »Hätten wir vielleicht rücksichtsvollerweise den Namen Manningham verwenden sollen?«
»Keinesfalls! Dann hätten Sie keine Zimmer bekommen! Momentan haben wir nicht sonderlich viel Platz, zu dieser Jahreszeit ist es immer überfüllt«, wandte Lady Alice ein. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie Lauritz’ Bruder sind?«
Sverre nickte nur.
Die Eröffnung des Gesprächs nahm sich möglicherweise eine Spur unangenehm aus, aber die Fortsetzung gestaltete Lady Alice wie die
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