Die Brueder
Reise, die frühmorgens fortgesetzt wurde, nahm einen recht lustigen Anfang. Vier Arbeiter hoben eine Draisine auf die Schienen und wollten sich bereits wieder entfernen, als Sverre sie gerade noch aufhalten konnte, damit sie ihnen eine Bedienungsanleitung geben konnten. Die Männer sahen sie erstaunt an, dann erklärte einer von ihnen Sverre widerwillig, als verstünde sich das eigentlich alles von selbst, das Gefährt. Anschließend spuckte er seinen Kautabak auf die Erde, machte auf dem Absatz kehrt und ging seiner Wege.
Das Gefährt wurde mittels einer auf und ab zu bewegenden Stange per Hand angetrieben. Es gab eine Bremse, eine Fläche zum Festzurren des Gepäcks und eine Bank für zwei zierlichere Personen oder jemanden von der Statur Arvid Sandbergs, der jetzt hoffentlich in Sankt Petersburg erfolgreich seine Gegner niederrang.
Die Fahrt mit der Draisine sollte für die beiden Diplomingenieure aus Dresden – der eine auf Maschinen spezialisiert, der andere auf den Eisenbahnbau – hinsichtlich der Übersetzung, der Beschleunigung und des Verhältnisses von Trägheitsmoment zu erzielender Geschwindigkeit eigentlich kein Problem darstellen.
Nichts war jedoch so einfach, wie es in der Theorie wirkte. Erst nach über einer Stunde gelang es ihnen, einen langsamen, ruhigen Rhythmus zu finden, der mit einem Minimum an Muskelkraft das Gefährt antrieb, ohne dass die Geschwindigkeit zu sehr anstieg und die Räder zu vibrie ren begannen.
Während der zweiten Stunde arbeiteten sie sich ruhig und methodisch durch die schwindelerregende Landschaft oder in schwarze Tunnel hinein, durch die sie sich blind bewegten, bis sie am anderen Ende das Licht erblickten.
Nach einem langen Tunnel erreichten sie eine Brücke, die über einen Abgrund führte. Ein Trupp Bahnarbeiter war mit der Fertigung eines Holzgeländers beschäftigt. Mitten auf der Brücke, wo das Geländer bereits fertiggestellt war, zog Sverre die Bremse an und arretierte sie, damit die Draisine nicht wegrollen konnte. Schweigend stieg er ab, trat an das Geländer heran und schaute in den Abgrund. Auf der einen Seite dröhnte ein weiß schäumender Wasserfall, auf der anderen bot sich ihm der Anblick eines unendlichen Tales. In den Felsritzen nahe der Brücke lag noch Schnee, weiter in der Ferne war alles grün, und blaue Berge ragten auf. Sverre beugte sich beunruhigend weit über das Geländer, um den Abgrund, den Brückenbogen und die Widerlager unter sich zu betrachten.
Albie war auf der Draisine stehen geblieben, von wo sich ihm eine ebenso gute Aussicht bot. Ihm wurde leicht schwindlig, und er verspürte keinerlei Bedürfnis, an das schwankende Geländer zu treten und den Sog des Abgrunds unter sich zu spüren.
Zu guter Letzt gab er sich dann doch einen Ruck und näherte sich vorsichtig Schritt um Schritt Sverre, klammerte sich dann ans Geländer und versuchte sich vorsichtig vorzubeugen, um in den Abgrund zu schauen. Als er den Kopf drehte, um Sverre anzusehen, erblickte er etwas, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Sverre weinte. Ganz still. Tränen liefen ihm über die Wangen und tropften auf seinen weißen Hemdkragen und Schlips.
»Mein lieber, lieber Sverri«, versuchte er ihn zu trösten. »Was bringt dich so aus der Fassung?«
»Das ist die Kleive-Brücke. Lady Alice hat mir davon erzählt«, versuchte Sverre zu erklären.
»Eine schöne, hohe Brücke aus Stein. Und?«
»Das hier ist das größte, gefährlichste und wunderbarste Bauwerk der gesamten Bergenbahn«, erwiderte Sverre leise und verstummte, als sei damit alles gesagt.
»Aha?«
»Mein Bruder Lauritz hat sie gebaut.«
»Ich verstehe«, flüsterte Albie leise, obwohl das nicht stimmte.
Es gab so vieles, das er hätte verstehen müssen, das meiste davon höchst beunruhigend und traurig. Traurig, weil Sverre weinte. Dies hier wäre also der für ihn vorgesehene Platz gewesen? Hierher, in diese Schnee- und Eiswüste hätte er reisen sollen statt nach Manningham? War diese Brücke das Symbol seines Verrats? Dieser Pflicht hatte er also den Rücken zugekehrt, genauso wie er selbst, Albie, gewissen Pflichten den Rücken kehrte, um sie dann heimlich auszuführen. Diese Absicherung nach beiden Seiten war Sverre nicht möglich gewesen. Man konnte sich der Kunst und der Unterhaltung mit wunderbaren Freunden nicht mal eben entziehen, um rasch in Schneestürmen und bei eisiger Kälte ein paar Brücken über ungeheure Abgründe zu bauen und dann wieder in das Leben eines Dandys
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