Die Brueder
auf dem Weg zur Osterøya und nach Tyssebotn.
Albie hatte die Aussprache in dem Augenblick perfekt gelernt, als Sverre das Gerede von der unmöglichen norwegischen Sprache leid gewesen war und er ganz einfach »Tüssebotten und Osteröja« auf ein Stück Papier geschrieben hatte.
Margie wirkte als Einzige unbekümmert und erwartungsvoll und ließ sich von den Touristenmassen nicht stören. Aber Sverre und Albie waren schrecklich angespannt und ärgerten sich über das Gedränge.
Sverres Anspannung kreiste um die Frage, ob ihm verziehen oder ob er verurteilt werden würde. Albies Nervosität hingegen war nicht wirklich greifbar.
Margie verstand jedoch, was in ihm vorging, und scherzte, dass er es jetzt mit gleicher Münze heimgezahlt bekomme, denn wie sei es nicht Sverre bei seiner Ankunft in Manningham ergangen?
Sverre erklärte daraufhin, dass es wie ein Traum gewesen sei, von dem er nicht gewusst habe, ob er gut oder schlecht sei. Er habe in der Kutsche gesessen und einen kleinen weißen Bauernhof mit Schafen auf den hügeligen Weiden erwartet. Dann habe sich plötzlich Manningham vor ihm aufgetürmt. Ein derartiger Schock würde Albie jedenfalls erspart bleiben.
Margie und Sverre versuchten Albie zu entlocken, wie er sich Sverres Elternhaus vorstellte, über das er kaum mehr wusste als Sverre damals über das seine. Aber Albie wich ihnen aus, indem er wie alle anderen Touristen an Deck stürzte, da der Dampfer gerade an einem Steg anlegte, an dem nur ein paar Einheimische an Land gingen. Die Touristen standen an der Reling und betrachteten die großartige Landschaft, hohe Berge mit schneebedeckten Gipfeln und Wasserfälle, die sich schäumend in den tiefblauen Fjord ergossen.
Albie fühlte sich an Schottland erinnert, wo es ebenfalls christlichen Fundamentalismus, kleine Häuser und Fischerbuden am Meer gab. Aber viel mehr Ähnlichkeiten gab es wohl kaum. Dieser dramatischen Landschaft, die sich doch sehr von Wiltshire unterschied, entstammte also Sverre, obwohl alle Einheimischen und die gesamte Besatzung an Bord ihn sicherlich als Fremden und Touristen betrachteten.
Hätte der Zufall es anders gewollt, wäre Sverre heute einer der Einheimischen, der Fischer, Handwerker oder Kleinbauern, die gerade die Gangway hinuntergingen, und sie wären sich nie begegnet und hätten von der Existenz des anderen nichts geahnt.
Nicht, dass er je den Gedanken an einen göttlichen Willen akzeptiert hätte, Albie war ebenso areligiös wie Sverre, Margie und jeder ihrer Bloomsbury-Freunde. Trotzdem war es, als hätte so etwas wie eine göttliche Laune sie einander in die Arme getrieben. Es war schwierig, sich von diesem Gedanken zu befreien, nachdem er sich einmal in seinem Kopf eingenistet hatte. Wie wäre sein Leben wohl ohne Sverre verlaufen?
Vermutlich wäre er verheiratet mit etlichen Kindern. Dazu Liebhaber in den Clubs am Piccadilly Circus.
Und wie sähe Sverres Leben aus, wenn sie nicht dieser Zufall, der nichts mit Gott zu tun hatte, in Dresden zusammengeführt hätte?
Nachdem er sich gewissenhaft sechs Jahre auf der Hardangervidda abgerackert hätte, wäre er jetzt einer der Teilhaber einer Bergenser Ingenieurbaufirma namens Lauritzen & Haugen und würde vermutlich wie sein Bruder mit einer norwegischen Ehefrau und einigen Kindern in einer schönen Villa wohnen. Nein, vielleicht noch keine Kinder. Möglicherweise hätte er sich auf ein paar Abenteuer mit Seeleuten in Bergens Hafenviertel eingelassen, was nicht ganz einfach gewesen wäre, denn eine Kleinstadt wie Bergen hatte im Hinblick auf heimliche Erotik nicht so viel zu bieten wie London.
Aber was wusste man schon über das Leben, das vor einem lag? Nichts, denn der Zufall konnte einen überallhin führen. Alles war möglich.
Aber gewiss war, dass sie Sverres Mutter treffen würden und sich möglichst aus dem Staub machen mussten, ehe der hasserfüllte älteste Bruder mit seinem doppelten Triumph angesegelt kam.
Mit Ausnahme des massiven weißen Gebäudes – wahrscheinlich ein Sägewerk oder eine Mühle an der Hafeneinfahrt – schien sich Tyssebotn kaum von den anderen Stationen auf dem langen Weg von Bergen zu unterscheiden.
Was auch immer sich Albie mithilfe schottischer Vergleiche vorzustellen suchte, erfüllte sich nicht, als sie an Land stiegen. Niemand war gekommen, um sie abzuholen oder ihnen ihr Gepäck abzunehmen. Sverre blieb an einem Stand stehen, wo eine üppige Blondine in Tracht in rasendem Tempo gestrickte Wollpullover verkaufte, ohne
Weitere Kostenlose Bücher