Die Brueder
zurückzukehren. In seinem Fall war die Wahl brutal einfach gewesen: entweder – oder.
Sverre zog ein Taschentuch aus der Brusttasche seiner Tweedjacke, schnäuzte sich und wischte unauffällig die Tränen weg, als befürchte er, Margie könne sie entdecken. Dann wandte er sich Albie zu und lächelte verlegen. In seinen Augen schien ein neuer Glanz zu erwachen.
»Mach dir keine Sorgen, lieber Albie«, sagte er. »Meine Worte im Gespräch mit Lady Alice waren aufrichtig. Ich habe meine Entscheidung getroffen. Bis dass der Tod uns scheidet.«
Albie vermochte nicht zu antworten. Zu viele Worte und Gefühle suchten gleichzeitig ein Ventil.
»Komm!«, meinte Sverre. »Wir fahren weiter.«
*
Der kleine Passagierdampfer, der sie zu der Insel bringen sollte, auf der Sverre seine Kindheit verbracht hatte, hieß Ole Bull, ein Name, den sich Albie und Margie ausnahmsweise leicht merken konnten. Sverre behauptete, der Dampfer sei im Laufe der Jahre geschrumpft. Er war in Dienst gestellt worden, als seine Brüder und er, damals zehn, neun und acht Jahre alt, die Insel verlassen sollten, um in Bergen, einer entsetzlich großen Stadt, Seilerlehrlinge zu werden.
Sie hatten diskutiert, ob Sverre diese Fahrt allein unternehmen sollte, aber jetzt standen alle drei auf dem Achterdeck und warteten darauf, dass der Dampfer ablegte.
Sie hatten kürzere Zeit als geplant in der idyllischen Stadt zugebracht, die sich in Margies und Albies Augen deutsch ausnahm, insbesondere zwischen den Lagerhäusern am Hafenbecken. Eine Schlagzeile in der Lokalzeitung hatte sie zur Eile angetrieben. Fette Buchstaben hatten den norwegischen Sieg bei der Regatta in Kiel verkündet. Nachdem Sverre den Text überflogen hatte, bestätigte er, was Albie und Margie bereits vermutet hatten. Lauritz hatte bei der Kieler Woche mit seiner Jacht Ran in der renommiertesten Klasse haushoch gesiegt. Unter den Ausgestochenen befand sich die Kaiserfamilie, die mit vier Booten, die normalerweise die besten Plätze belegten, angetreten war. Dieses Mal jedoch hatte die norwegische Jacht in allen Wettkämpfen gesiegt.
Das war natürlich eine erfreuliche Neuigkeit, insbesondere wenn man bedachte, was dieser Triumph für Lauritz’ Heiratspläne bedeutete. Das musste gefeiert werden, was sie dann auch bereits am selben Abend in einem Restaurant auf einem Berg, dem die in der Sommerdämmerung funkelnde Stadt zu Füßen lag, taten. Nun gab es ein Problem: Lauritz hatte sicher bereits den Heimweg angetreten. Er würde etwa zwei bis drei Tage benötigen, um von Kiel nach Bergen zu segeln, vermutete Sverre. Die Jacht musste als Erstes nach Hause überführt werden. Wieder in Bergen, würde Lauritz wohl erst einmal die Renovierung seines Hauses in der Allégaten in Augenschein nehmen, in das er nach seiner Hochzeit einziehen würde. Aber danach ging es vermutlich direkt zu Mutter Maren Kristine nach Osterøya, um ihr die Nachricht von seiner baldigen deutschen Hochzeit zu überbringen.
Es ließ sich also leicht ausrechnen: In vier Tagen mussten sie die Osterøya verlassen haben, um nicht Gefahr zu laufen, Lauritz dort zu begegnen. Nicht, weil Sverre Angst vor Handgreiflichkeiten hatte, aber er fürchtete den Hass seines Bruders mehr als alles andere, diese betrübliche Form menschlicher Erniedrigung. Der Umstand, dass sich das Objekt dieses Hasses, nämlich Albie, in höchsteigener Person in seinem Elternhaus befand und seine Mutter durch seine bloße Gegenwart besudelte, würde die Begegnung sicher nicht angenehmer gestalten.
Sie hatten erwogen, dass Albie und Margie in Bergen blieben, während Sverre den Besuch bei seiner Mutter hinter sich brachte. Die beiden hätten sich schon zu beschäftigen gewusst. Die nationalromantische Kunstausstellung war durchaus einen weiteren Besuch wert. Nach Sverres Rückkehr konnten sie dann den längeren Ausflug den Fjord entlang antreten.
Aber Sverre war dagegen. Er wünschte sich, dass seine Mutter und Albie sich wenigstens einmal im Leben begegneten, selbst auf die Gefahr hin, dass sie mit feurigen, christlichen Verwünschungen überschüttet würden. Die Religion Maren Kristines wies aber auch eine andere und eigentlich sehr grundlegende Eigenschaft auf, nämlich die der Vergebung, und im Falle einer solchen würde sich ihr Leben einfach leichter gestalten.
Genauer gesagt noch leichter. Während ihres Spaziergangs durch Bergen hatte Sverre ihnen das Bürogebäude mit dem großen funkelnden Messingschild neben dem großen Portal an
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