Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
Entfernung halten. Die weiten Kapuzen ihrer langen weißen Baumwollumhänge verhüllen ihre Gesichter. Einer von ihnen sieht zum Fluss hin, die beiden anderen richten den Blick unverwandt zum Himmel. Cyal, ihr Anführer, lächelt Debbie still zu. Er hat sie am Flughafen abgeholt. Als Hüter des Heiligtums von New Orleans wachen sie seit Wochen am Mississippi. Sie wissen, dass die Deiche nicht standhalten werden.
In einer kurzen telepathischen Botschaft teilt Debbie einem der Hüter mit, dass sie sich allein in die Gassen der Altstadt begeben muss. Er wendet sich seinen Gefährten zu und schickt ihnen seinerseits eine Botschaft. Einer von ihnen geht über eine mit Algen bedeckte Treppe bis dorthin, wo die letzten Stufen unter der Wasserfläche verschwinden.
Er heißt Elikan. Er beugt sich vor und schöpft mit der hohlen Hand ein wenig Wasser. Es riecht nach Salz und Schlamm. Er richtet sich wieder auf und schickt die lautlose Botschaft an Debbie, dass ihre Zahl nicht genüge, um im Fall eines Angriffs die Sicherheit der Verehrungswürdigen Mutter zu gewährleisten. Sie seien zu wenige und zu schwach. Der dritte Hüter gibt zu bedenken, dass die Elemente die Macht des Erzfeindes nahezu vollständig aufgesogen hätten und seine Kräfte kaum genügen dürften, am helllichten Tag einen offenen Angriff zu wagen. Elikan steigt die Stufen wieder empor und wischt sich die Hände ab.
»Wie viel bist du bereit, darauf zu wetten, Kano?« Gerade als der Angesprochene antworten will, unterbrechen ihn die Schwingungen, die von der Verehrungswürdigen Mutter kommen. Sie hat ihren Entschluss gefasst. Solange die Hüter bei ihr sind, wird sich der Erzfeind nicht zu zeigen wagen. Wenn er hingegen glaubt, dass sie allein sei, dürfte er sich die günstige Gelegenheit auf keinen Fall entgehen lassen. Die Antwort des Anführers der Hüter lässt nicht auf sich warten: »Das ist unklug, Mutter. Sofern der Feind angreift, können wir nie und nimmer rechtzeitig zu Euch stoßen.«
»Es gibt keine andere Möglichkeit, Cyal.«
Der Anführer sieht der Alten nach, die in die St. Ann Street einbiegt. Windstöße wirbeln Staubwolken auf. Hinter sich hört er das Rascheln von Baumwollgewändern. Die beiden anderen Hüter sehen zu, wie die Verehrungswürdige Mutter an der Ecke des Jackson Square verschwindet, und tauschen undeutliche Gedanken miteinander aus, die Kano laut zusammenfasst: »Wenn Cole etwas zustößt, werden uns die anderen Verehrungswürdigen in Stücke schneiden.«
»Sie weiß, was sie tut.«
»Wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben«, flüstert Kano, wieder auf der telepathischen Welle.
Der Regen nimmt an Heftigkeit zu. Dicke schwarze und gelbe Tropfen zerplatzen auf dem Boden. Cyal spürt, dass etwas unter seinen Sohlen zerbirst. Er senkt den Blick. Tausende von Wespenleichen bedecken den Asphalt.
»O Gäa, sie sind da...«
Gerade als Cyal der Verehrungswürdigen Mutter eine telepathische Warnung senden will, legt sich unversehens ein schwarzer eiskalter Nebel über seinen Geist. Er hört die anderen Hüter Klagelaute ausstoßen, während sie auf die Knie sinken. Er hat keine Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen. Der Hem-Lak! Das ist sein letzter Gedanke, während ihm ein Blutfaden aus der Nase über das Kinn läuft. Er hat noch Zeit, sich zu den anderen Hütern umzuwenden, die am Boden liegen. Ihre Körperumrisse beginnen bereits zu verschwimmen. Von Windstößen gebläht, treiben ihre leeren Umhänge auf den Vater aller Ströme zu. Man könnte sie für riesige Flügel halten, die auf der bewegten Fläche des Flusses dahingleiten. Cyal schließt die Augen. Sein Geist löst sich auf wie eine vom Wind aufgewirbelte Staubwolke. Noch bemüht er sich zu kämpfen, doch er weiß, dass es aussichtslos ist. Ein letzter Blick hinüber zu der Gasse, in der die Verehrungswürdige Mutter verschwunden ist. Dann spürt er, wie sich sein Umhang in die Lüfte erhebt, während die Moleküle seines Körpers zerflattern wie ein Schwarm Stare.
5
Mit kleinen Schritten dringt Debbie in das französische Viertel der Stadt vor. Gerade hat sie die weiße Kathedrale des heiligen Ludwig erreicht, an der sie bis zur Kreuzung
der Bourbon Street entlanggeht. Seit einigen Minuten liegt eine tiefe Stille über diesem Teil der Altstadt. Alles ist ruhig. Viel zu ruhig.
Sie kneift die Augen zusammen, um eine Lichterprozession besser erkennen zu können, die sich inmitten der Menschenmenge auf der Bourbon Street nähert. Dort das Gewimmel – und hier
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