Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
zusammen und öffnet die Augen erneut. Glockengeläut in der Ferne. Erneut zittert sie, während sie an das Mädchen in der Menge der verdreckten Leiber denkt. Ihre Vision war so wirklichkeitsgetreu, dass sie selbst, oder besser gesagt ein Teil von ihr, diejenige zu sein glaubte, die den Arm des Mädchens ergriff. Ein Teil ihres Bewusstseins und ihrer Erinnerung, die sich im verwirrten Geist des Mädchens verlieren.
2
Debbie hebt den Blick zu den Gebäuden der Stadtmitte. Ein alter Raddampfer fährt unter der Greater-Brücke hindurch, deren Metallkonstruktion im Dunst einer riesigen Spinne ähnelt. Eine leichte Brise aus dem Bayou bringt den fauligen Geruch von Schlamm mit sich. Wie um dem herannahenden Unwetter zu trotzen, hängen Fetzen von Jazz, eine Wolke heißen Staubs und Cajun-Rhythmen in der feuchtheißen Luft der Straßen des französischen Viertels. Debbie, die vor einigen Stunden aus Buenos Aires angekommen ist, hat sogleich ihre Wachposten in alle Richtungen
ausgesandt. Ein Heer von Katzen, die von Dach zu Dach springen, und einige Tauben, die über dem Heiligtum kreisen, versuchen festzustellen, wo sich der Erzfeind aufhält.
Während sie wartet, steckt sie sich bedächtig eine Zigarette zwischen die Lippen und lässt den Deckel ihres altmodischen Feuerzeugs aufspringen. Knisternd entzündet sich der schwarze fire-cured Kentucky-Tabak, von dem sie sich jeden Monat achthundert Gramm nach Argentinien schicken lässt. Mithilfe farbiger Röhrchen, an deren Ende Kartonfilter sitzen, dreht sie sorgfältig ihre Zigaretten daraus. Eigentlich verabscheut Debbie die Filter, da sie das Tabakaroma an der Entfaltung hindern, doch hat sie sich seit den mahnenden Worten ihres Kardiologen in Buenos Aires mit ihnen abgefunden, weil sie nützlich sind. Sie stößt den Rauch aus und hustet gleich darauf. Der Kardiologe hatte gefragt, seit wann sie rauche. Was hätte sie ihm darauf antworten sollen?
Ohne auf die missbilligenden Blicke der Jogger zu achten, versucht sie, sich an ihre erste Ankunft in New Orleans zu erinnern. Sie runzelt die Stirn. Da haben wir es, schon wieder eine Erinnerungslücke. Zum Verrücktwerden. Das verfluchte Datum liegt ihr auf der Zungenspitze. Sie beschimpft sich als alten Schussel und brummelt dabei leise vor sich hin, wie alte Menschen es tun, wenn sie in Gedanken versunken sind.
»Mal sehen, so lange ist das doch noch gar nicht her... Na ja, aber...«
Zum ersten Mal war Debbie Cole an einem Donnerstag nach New Orleans gekommen. Am 17. September 1807. Während ein Lächeln ihren faltigen Mund in die Breite zieht, stößt sie erneut den Rauch ihrer Zigarette aus. Ja, jetzt weiß sie es wieder. Es war ein entsetzlich heißer Tag gewesen.
3
Debbie Cole verzieht das Gesicht. Die Füße tun ihr schrecklich weh. Schon seit Stunden zieht sie umher, wobei sie den Stock Schritt für Schritt vor sich in den Staub setzt. Die Luft, die in ihre ausgedörrte Kehle dringt, ist so dick und klebrig wie Sirup.
Jedes Mal, wenn sie sich auf einer Bank eine kleine Pause gönnt, lassen sich ihre Erkundungstauben um sie herum nieder. Sie wirft ihnen aus einer Tüte Hände voll Reis hin und antwortet auf ihr Gurren. Auf einen telepathischen Befehl von ihr erheben sich die Vögel wieder, um ihre Kreise über der Stadt zu ziehen und ein Stück weiter abermals zu ihr zu stoßen, bei einer anderen Bank. Bisweilen kommen auch Katzen und reiben sich an ihren Beinen. Keinen der schwitzenden Jogger und der flanierenden Spaziergänger scheint es zu wundern, dass Katzen und Tauben friedlich vereint sind, und auch nicht, dass eine alte Frau gurrt und schnurrt. Offen gestanden bringt es Debbie zur Verzweiflung, dass sich niemand mehr über etwas wundert.
Bisher hatten die Wachposten nichts Auffälliges zu berichten. In der Stadt herrscht das übliche Menschengewimmel. Man hört die gleiche Musik und nimmt die gleichen Gerüche wahr wie sonst auch. Erstaunlich ist nur, dass schon seit einer vollen Stunde keine einzige Katze und keine einzige Taube gekommen sind, um Bericht zu erstatten.
Erneut hebt Debbie aufmerksam den Blick zum Himmel. Die Musik, die Gerüche, die Geräusche. Die Stille. Sie wartet auf eine Regung an der Oberfläche der Macht, eine Welle, ein Zeichen. Nichts. Sie spürt, wie ein innerer Schwindel sie erfasst. Sie weiß, dass das nicht an der Hitze liegt. Sie lässt es sich gefallen, dass ihr ein junger
Mann hilft, sich auf eine Bank zu setzen. Sie hört seine Frage nicht, ob ihr unwohl sei. Sie
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