Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
steigen... Sie wissen nicht, dass es bereits zu spät ist, die Stadt zu verlassen. Katzen und Tauben sind schon fort. Sie wissen, dass der wahre Feind weder der Wirbelsturm noch das Gewitter ist, sondern das Wasser.
Mühevoll richtet sich Ayou auf. Seine Pfoten zittern. Er kann nicht mehr. Blut tropft ihm aus dem Maul. Vorsichtig überquert er die Straße und schlängelt sich zwischen dem Wald aus Menschenbeinen hindurch. Niemandem fällt auf, dass er durch die großen Glastüren in das Einkaufszentrum eilt. Er schleicht sich in eine Kleiderboutique und schlüpft ungesehen in eine leere Umkleidekabine, deren Vorhang geschlossen ist. Er merkt, wie der Nebel aus Molekülen um ihn herum erneut Gestalt annimmt. Der Geist der Alten fährt aus seinem Gehirn wie ein Dolch, den man aus einer Wunde zieht. Sogleich fühlt er sich allein und völlig verlassen. Er hat keine Schmerzen mehr. Während die Alte sein Fell liebkost, flüstert sie ihm leise Worte ins Ohr, die er nicht mehr versteht. Sie wiegt ihn in ihren Armen.
Ayou atmet mühsam. Durch seinen Kopf ziehen Bilder von den Straßen der Stadt, von nächtlichen Jagden und Streifzügen, aus denen sein Katerleben bestand. Seine Pfoten
entspannen sich leicht, er zieht die Krallen ein. Das Murmeln der Alten entfernt sich. Unter den Pfoten spürt er etwas Weiches und Wohlriechendes. Er saugt den Lufthauch ein, der sein Maul umspielt, eine Luft voller Gerüche nach Blumen, Erde und Tieren. Als er die Augen öffnet, fällt sein Blick auf die Ebene, die sich endlos vor ihm erstreckt. In der Ferne sieht er Kater, die sich am Rande eines Gewässers balgen. Er erkennt seinen alten Freund Ilyot, den im Frühjahr ein Auto überfahren hatte. Ein Stück weiter leckt sich der alte Chawn das Fell. Aus dem Gebüsch tauchen Weemi und Lawan auf, die Zwillinge, die gemeinsam unter die Räder eines Zuges gekommen waren. Spielerisch schlagen sie mit den Pfoten nacheinander. Alle sind sie da, die er aus New Orleans kennt, die Gefährten seiner früheren Streifzüge. Mit einem Mal lenkt eine schöne Siamkatze Ayous Blicke auf sich, die sich schnurrend nähert. Als er ihren leichten Geruch nach Sardine und welkem Laub einatmet, überschwemmt ihn eine Welle des Glücks. Miew ist nicht tot, Miew lebt. Mit freudigem Miauen stürzt Ayou auf sie zu. Ihm ist nicht mehr elend, und er hat auch keine Angst mehr.
8
Behutsam legt Debbie Cole den toten Kater auf den Hocker in der Umkleidekabine und streicht ihm ein letztes Mal über das rötliche Fell. Dann stöbert sie zwischen dem, was Kundinnen dort haben hängen lassen, nimmt ein geblümtes Kleid und zieht es an. Darüber kommt ein für ihr Alter zu eng taillierter Mantel aus Kunstleder. Während sie sich lächelnd im Spiegel betrachtet, zuckt sie die Achseln. Wer nur noch wenige Minuten zu leben hat, macht sich nicht das Geringste aus dem, was andere denken. Erschöpft
setzt sie sich wieder. Ihre Hüfte schmerzt. Mit einem Mal fühlt sie sich entsetzlich alt. Sie bedenkt die Verkäuferin, die den Vorhang öffnet und sich errötend entschuldigt, mit einem übellaunigen Lächeln. Gerade als die junge Frau wieder gehen will, fällt ihr Blick auf den toten Kater. Debbie schickt ihr rasch eine telepathische Mitteilung. Die Verkäuferin zuckt zusammen. Mit betrübter Miene fragt sie: »Schläft er?«
Debbie nickt.
»Wie heißt er?«
Eine erneute Botschaft.
»Ein hübscher Name.«
Dann schließt sie den Vorhang wieder. Debbie bleibt allein zurück.
Sie konzentriert sich. Trotz des Migräneanfalls, der einen eisernen Reif um ihre Schläfen legt, gelingt es ihr ohne allzu große Mühe, den Aufenthaltsort der anderen Verehrungswürdigen Mütter festzustellen. Sie sind auf dem Weg, wissen aber nicht, dass sich der Erzfeind dort befindet. Debbie wird sie mit einer kraftvollen Botschaft warnen müssen. Das ist gleichbedeutend mit ihrem Todesurteil, denn damit gibt sie ihren Aufenthaltsort ebenso deutlich preis, als wenn sie mitten in der Nacht ein Feuer entzündete. Doch ihr bleibt keine Wahl. Sicherlich hat der Erzfeind bereits die ersten schwachen Wellen wahrgenommen, die sie an die Verkäuferin ausgesendet hat: einige kaum spürbare Regungen an der Oberfläche der Macht, eine in normalen Zeiten so gut wie unsichtbare Bewegung, die aber auf keinen Fall unentdeckt bleibt, wenn er einer Verehrungswürdigen auf der Spur ist.
Sie zieht den Vorhang beiseite und bahnt sich mühevoll einen Weg zur Schuhabteilung, wo sie ein Paar Sandalen auswählt. Dann wendet
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