Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
sie sich dem Ausgang zu. Ein schriller Alarm ertönt, weil sich die Sicherungsetiketts
noch an der Ware befinden. Ein Wachmann legt ihr die Hand auf den Arm. Sie konzentriert sich. Der Mann fragt sie, ob sie Hilfe brauche. Gerade als sie ihm eine neue Botschaft schicken will, sieht sie, wie sich ein Obdachloser zu ihr umdreht. Er hat die Welle gespürt. Mit geschlossenen Augen schnuppert er wie ein Hund. Debbie lächelt dem Wachmann zu, und dieser entfernt sich. Kurz bevor er in einem der Gänge verschwindet, dreht sie sich um. Der Obdachlose scheint sie eine Weile interessiert anzusehen und wendet dann den Blick ab. Debbie beginnt zu zittern. Hätte die von ihr ausgesandte Welle auch nur den Bruchteil einer Sekunde länger gedauert, wäre sie jetzt verloren. Der Mann geht mit unsicherem Schritt weiter. Er macht anderen Obdachlosen in den Gängen ein Zeichen. Als sich Debbie aufmachen will, hört sie durch ihre Migräne hindurch Hanikas Stimme. Der Obdachlose verharrt und dreht sich erneut zu ihr um. Ein grausames Lächeln umspielt seinen Mund. Seine Augen sind weiß, es sind die eines Blinden.
Sie setzt den Fuß auf eine Rolltreppe und verzieht dabei das Gesicht vor Schmerzen. Ihr Stock fehlt ihr. Rasch sieht sie sich um. Niemand. Sie darf keine Sekunde verlieren. Sicherlich werden die Obdachlosen dort im Einkaufszentrum nicht sofort offen gegen sie vorgehen; vermutlich wollen sie warten, bis von der Straße Verstärkung gekommen ist. Dann aber werden sie angreifen, weil sie sich in der Menge sicher fühlen: am Ende eines der Gänge ein Messerstich in den Rücken oder den Unterleib. Bestimmt ist ihnen klar, dass Debbie nicht entkommen kann und es sie einen großen Teil ihrer Macht gekostet hat, sich in Ayou zurückzuziehen.
Am oberen Ende der Rolltreppe sieht sie ein großes Fenster. Sie bleibt einen Augenblick stehen und schaut aufmerksam auf die darunter liegende Straße. Weitere Obdachlose
rücken näher. Insgesamt ein gutes Dutzend. Allem Anschein nach unbeeindruckt von den entfesselten Elementen, zwängen sie sich durch das Gedränge. Sie kennen einander kaum, hassen sich wohl eher gegenseitig. Worte sind zwischen ihnen nicht nötig – sie alle gehorchen demselben Befehl, der sie leitet und zugleich nach und nach tötet.
Debbie erkennt die dicke Frau im orangefarbenen Anorak wieder, die immer noch ihren Einkaufswagen vor sich herschiebt. Sie bleibt stehen und hebt den Blick zu dem großen Fenster. Sie muss aufstoßen; dabei quillt ihr hellrotes Blut aus der Kehle, läuft ihr über Kinn und Hals. Der Regen verdünnt es. Sie weist mit der ausgestreckten Hand auf das Fenster, als wolle sie Debbie begrüßen. Die anderen Obdachlosen folgen der angezeigten Richtung mit den Augen. Einer von ihnen bewegt die Lippen, als belle er. Er saugt den Regen und den Wind ein. Debbie dreht sich um. Die bereits im Einkaufszentrum befindlichen Obdachlosen können nicht weit sein. Zusammen mit denen von den Parkplätzen und aus dem Tiefgeschoss des riesigen Einkaufszentrums sind es rund zwanzig, die sie jetzt einzukreisen beginnen. Die Alte unternimmt keinen Versuch, ihnen zu entkommen. Dazu ist sie zu erschöpft.
Sie lehnt sich mit dem Rücken an eine Säule und hört, wie Hanikas Stimme erneut in ihren Geist eindringt. Ihre Schwester sitzt im Fond einer Limousine, die über die Claiborne Avenue fährt. Sie ist besorgt. Nacheinander melden sich weitere Stimmen: Akima aus ihrem Hotelzimmer im Stadtviertel Tulane, und Hazel, die in einem Cafe an der Ecke Canal und Loyola Street in Sicherheit ist. Auch Salima meldet sich. Sie sitzt in einem Abteil erster Klasse des Schnellzugs aus Memphis, der soeben im Bahnhof von New Orleans eingelaufen ist. All diese Stimmen prallen gegeneinander, sodass Debbie vor Schmerz aufstöhnt. Sie haben die Schwere der Situation begriffen.
Tiefe Trauer legt sich auf Debbies Seele. Ihr ist bewusst, dass sie ihre alten Freundinnen nie wiedersehen und die Botschaft, die sie ihnen jetzt sendet, ihre letzte sein wird. Wie gern hätte sie sie alle noch einmal umarmt. Bevor sie sich den ernsthaften Dingen zuwandten, hätten sie einen Schaufensterbummel durch die Straßen von New Orleans gemacht und in einem der Salons der Stadt, in denen man bis zum frühen Morgen Musik hören kann, Tee getrunken. Debbie und Akima hätten sich eine letzte Zigarette angesteckt und ungerührt zugehört, wie sich Hazel über den Rauch beschwerte. Dann hätten sie sich mit Gebäck gestärkt, um die Nacht durchhalten zu
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