Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie

Titel: Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
Vom Netzwerk:
Verehrungswürdigen auf keinen Fall in die Augen sehen, denn das würde sie verbrennen. Während die Alte leise die Übertragungsformel anstimmt, konzentriert sie all ihre Kräfte.

10
    Als die Macht der Verehrungswürdigen Mütter in ihr Gehirn eindringt, beißt sich Holly auf die Unterlippe. Es ist, als ob auf einen Schlag Millionen von Erinnerungen ihr Gedächtnis überschwemmten, Millionen unbekannter Bilder sich in ihrem Gehirn drängten und sie von einem Augenblick auf den anderen Milliarden von Dingen beherrschte, von denen sie bisher nicht das Geringste geahnt hatte. Ihr entfährt vor Schmerz ein Schluchzen. Debbie flüstert ihr zu, dass alles in Ordnung sei. Das aber stimmt nicht: Die Zellen der Kleinen regenerieren sich nicht schnell genug. Ihr Organismus steht im Begriff, unter dem fürchterlichen Ansturm des Alterns zu explodieren. Debbie könnte die Übertragung beenden, sie müsste dazu lediglich ihre Hände von den Schultern des Mädchens nehmen. Doch sie fährt fort. Ihr bleibt keine Wahl, sie ist inzwischen nahezu vollständig entleert. Ihre letzten Erinnerungen gleiten in den Kopf des Mädchens. Debbie sieht mit ihren Augen, spürt ihr Leiden und ihre Trauer. Vier Jahrhunderte sollen im Organismus einer Elfjährigen Platz finden. Ein Ozean in einem Wasserglas.
    Hollys Hände verkrampfen sich. Sie spürt, wie sich die Finger der Alten auf ihren Schultern allmählich auflösen, während deren Leib zu Staub zerfällt. Irgendetwas erteilt ihr den Auftrag, so schnell wie möglich das Parkhaus aufzusuchen. Langsam setzt sich das Mädchen in Bewegung. Unmittelbar vor dem Ausgang sieht sie draußen auf dem Parkdeck drei Männer in langen weißen Umhängen mit Kapuzen auf dem Kopf. Sie weiß nicht, warum, doch ihr ist klar, dass sie von ihnen nichts zu befürchten hat.
    Die Glastüren öffnen sich. Ein eiskalter Windstoß hüllt Holly ein. Sie dreht sich um und sieht, wie sich eine Gruppe
verwahrloster Gestalten auf die Überreste der Alten stürzt. Sie nimmt die hassvollen Blicke dieser Menschen wahr und hört, was der Anführer denkt, während sie sich alle ihr zuwenden. Er ruft, dass sich die Alte im Körper der Kleinen befinde, die gerade hinausgegangen ist und man sie um jeden Preis einfangen müsse. Verängstigt beginnt Holly, über den nassen Betonboden auf die Männer in Weiß zuzulaufen. Sie wirft sich dem ersten in die Arme und liest in seinen Gedanken, dass er Elikan heißt. Gleich einem Ritter führt er sie über das Parkdeck zu einer schweren Limousine, deren Motor läuft. Holly nimmt hinten Platz. Einer der Männer setzt sich neben sie, schließt ihren Gurt und sagt: »Keine Sorge, Mutter. Wir sind da.«
    Der Wagen beschleunigt so heftig, dass es Holly tief in den Ledersitz presst. Flüchtig sieht sie im Scheinwerferlicht den Anführer des Trupps der Verwahrlosten. Der Fahrer heißt Kano. Er ist ebenfalls gutherzig, jetzt aber voller Wut. Doch ist er nicht nur wütend, sondern auch mächtig. Ein Zauberer. Statt dem Mann auszuweichen, tritt er das Gaspedal voll durch und erfasst ihn mit der Stoßstange unterhalb der Knie. Holly unterdrückt einen Entsetzensschrei, als der Verwahrloste gegen die Windschutzscheibe geschleudert wird und dann zu Boden stürzt. Mit lautem Gebrüll stürmen weitere verwahrloste Gestalten aus dem Einkaufszentrum heraus, geben aber die aussichtslose Verfolgung bald auf.
    Hollys Zähne klappern. Der Mann neben ihr heißt Cyal. Er drückt sie an sich und flüstert ihr beruhigende Worte zu. Er riecht gut, nach Lebkuchen und Lavendel. Er ist der Älteste der drei, ein Elf. Jedenfalls denkt Holly das, während sie die Augen schließt. Sie hat soeben gemerkt, dass sie sich kaum noch an ihre Eltern und das Haus in einem der Armenviertel von New Orleans erinnern kann. Auch das Gesicht ihres kleinen Bruders hat sie fast vergessen,
weiß kaum noch, wie er heißt, und kann sich ebenfalls nicht mehr an den Geruch des abgefahrenen Autoreifens erinnern, der an einem Seil am Ast einer alten Ulme im Garten hängt und ihr als Schaukel gedient hat. Sie versucht, sich den Namen ihrer Schule und ihrer Lehrerin ins Gedächtnis zu rufen, den ihrer Lieblingspuppe und den der freundlichen alten Dame, die immer ins Haus gekommen ist, um auf sie und ihren Bruder aufzupassen, wenn die Mutter spät von der Arbeit zurückkam. Sie weiß nicht einmal mehr, wie die Maisfelder am Ende der langen Sommertage rochen.
    Durch die Windschutzscheibe, auf die der Regen prasselt, sieht sie undeutlich die

Weitere Kostenlose Bücher