Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
und eine ganze Weile liegen geblieben, während sie zusah, wie der Himmel zwischen den Ästen heller wurde. Während all dieser Zeit hatte sie nicht aufgehört zu lächeln.
4
Maria öffnet das Tor vor dem Anwesen Milwaukee Drive 12. Wie jedes Mal, wenn sie das tut, kommt es ihr vor, als öffne sich der ganze Wald. Hinter dem Zufahrtstor windet sich ein Weg, der zu einem hübschen einstöckigen Blockhaus führt. Ohne sich das bewusst zu machen, hatte sie ihr Haus in dem Stil erneuert, den sie im Traum gesehen hatte.
Während die Arbeit voranging, hatte sie oft von der jungen Frau aus der fernen Vergangenheit geträumt, und zwar so häufig, dass es ihr nach und nach vorkam, als schlüpfe sie in deren Haut. Tagsüber ging sie wie sie, dachte wie sie und hatte sogar angefangen, sich wie sie zu kleiden. Auch hatte sie gemerkt, dass sie sich auf geheimen Pfaden durch die Wälder bestens auskannte, sogar auf solchen, die schon längst aus dem Gedächtnis der Menschen verschwunden waren.
Eines Nachts war sie in Hezels Kleid wach geworden. Es war dunkel, und Blitze durchzuckten den Wald. Die junge
Frau war erschöpft. Sie kam vom jenseitigen Ende des Walds zurück. Um Kräuter zu suchen, die nur dort wuchsen, war sie bis in die Nähe von Jericho gegangen. Zwar war das zu jener Zeit nur eine kleine Ansiedlung, doch da deren Bewohner bereits angefangen hatten, die Umgebung zu erkunden, war es Hezel klar, dass es nicht lange dauern würde, bis sie Old Haven überfallen würden. Schon mehrere Male war sie mitten in der Nacht nach Jericho gegangen, um ihre Gedanken zu belauschen. Sie hatte darin viel Schwärze, Wut und Angst gesehen, aber auch viel Leiden. Die Bewohner der Ansiedlung waren gekommen, um die Neue Welt zu erobern. Sie hatten zwei der Ihren davongejagt, die sie dabei ertappt hatten, wie sie einander liebten, und sie fast zu Tode gesteinigt. Danach hatte Hezel den Kindern von Old Haven geraten, sich nicht zu weit in den Wald zu wagen und sofort das Weite zu suchen, wenn sie merkten, dass sie die Gedanken Fremder empfingen.
An jenem Tag war sie gerade dabei, Kräuter zu sammeln, als sie von einer Lichtung her Schreie gehört hatte. Beim Näherkommen hatte sie gesehen, dass ein weinendes Kind im Gras lag. Ein kleines Mädchen saß starr vor Entsetzen daneben. Dann hatte Hezel Mokassin-Schlangen mit kupferfarbenen Köpfen gesehen. Sie hatten den kleinen Jungen bereits gebissen und machten sich jetzt zu einem erneuten Angriff bereit. Das Mädchen hatte noch nicht gemerkt, dass sie im Begriff waren, die Kinder zu umzingeln. Hezel hatte einen Ast vom Boden aufgenommen und war vorgestürmt, wobei sie sonderbare Laute ausstieß. Die Schlangen waren wütend. Als sie ihnen erklärt hatte, dass die Kinder ihnen nichts Böses wollten, waren sie verschwunden. Während sich Hezel neben den kleinen Jungen gekniet hatte, hatte ihr das Mädchen zugelächelt. Die Bisswunde war angeschwollen, ihre Ränder hart. Offensichtlich war der Giftzahn tief eingedrungen, und die Schlange hatte
ihre Giftblasen vollständig entleert. Während Hezel beide Hände um die Wunde schloss, hatte das Mädchen sie gefragt: »Was machst du da?«
»Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«
»Ja.«
»Dein Bruder ist sehr krank. Ich will versuchen, ihn zu heilen.«
»Bist du eine Hexe?«
Ein Schauer hatte Hezel erfasst, als sie wahrnahm, welcher Hass bei diesen Worten in der Stimme des Kindes lag. Sie würde die Erinnerungen der Kleinen löschen müssen, jetzt aber galt es, sich dem Jungen zuzuwenden. Sie hatte sich mit allen Kräften konzentriert und gemurmelt, wobei ihre Augen hervortraten: »Gäa ist die Ewige. Die Ewige ist in mir. Aber ich bin nicht Gäa. Der Stab des Wanderers, aber nicht der Wanderer. Das Blatt, das im Wipfel des Baums weht, aber nicht der Baum. Der Wassertropfen im Meer, aber nicht das Meer. Nichts stirbt je in Gäa oder geht zu Ende, denn in ihr ruft jeder Tod neues Leben hervor. Jedes Ende ist nichts als der Abschluss von etwas Vorhergehendem. Jeder Abschluss ist der Beginn von etwas, das ihm folgt.«
Voll Staunen hatte das Mädchen gesehen, wie die Giftfäden aus der Wunde liefen, die daraufhin abschwoll. Als Hezel ihre Hände fortnahm, blieb nur noch eine winzige bräunliche Narbe zurück. Erneut hatte die Kleine mit zitternder Stimme gesagt: »Ja, du bist eine Hexe.«
Hezel war ihr leicht mit den Fingern über die Stirn gefahren, und das Mädchen hatte einen lauten Schrei ausgestoßen, als sie deren Hitze spürte. In
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