Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
Überall wehren sich Frauen unter Jammergeschrei. Dann erfüllen Schmerzen Neeras Geist. Sie erkennt ihre Drillingsschwester Ekla, gleich ihr eine Aïkan. Sie widersetzt sich mit aller Kraft einem weit stärkeren Wesen, das sie zerquetscht und erstickt. Der Blick aus den Augen des Wilden dringt tief in die Eklas ein, während er ihr eine Klinge in den Leib treibt und sie aufschlitzt. Starker Blut- und Eingeweidegeruch steigt Neera in die Nase. Vergeblich versucht sie, diese Erinnerung abzuschütteln.
Nachdem sich das Tier von Eklas Leiche abgewendet hat, hebt es die Augen. In den Höhlen der Mondleute sieht man im Fackelschein weitere Wilde über ihren Opfern. Dann ertönt ein Hornstoß aus den Tiefen der unterirdischen Anlage. Die Vorhut der Angreifer hat gemerkt, dass eine junge Aïkan mit ihrer Leibwache entflohen ist. Ihr Anführer springt auf und stürmt mit lautem Geheul durch die unterirdischen Gänge, wobei er seine Keule schwingt. Er hat unübersehbar Angst.
Ein weiteres Bild zeichnet sich im Gehirn des Wolfs ab. Die Wilden haben nahe dem Großen Fluss das Freie erreicht. Mit geweiteten Nasenflügeln in der Luft witternd entdeckt der Anführer den zarten Geruch einer Frau und den durchdringenden mehrerer Männer. Er folgt der aus Schweiß, Hautgeruch und weiblichem Geschlecht bestehenden Duftspur der Frau. Umgeben von ihrer Leibwache eilt sie dahin. Wut übermannt den Wilden. Er hebt seine Keule und weist in die Richtung, welche die Flüchtigen genommen haben.
Mit aller Macht klammert sich Neera an die Erinnerung des Wolfs. Seit Stunden versuchen die Wilden, die Entflohenen einzufangen. Sie wissen, dass sie verloren haben, wenn ihnen das nicht gelingt. Während der Anführer voll Wut und Angst an einem Grasbüschel riecht, hört er über sich
das Krächzen eines Krähenschwarms. Eklas Mörder hebt den Blick zum Himmel. Ein entsetzlicher Schmerz durchfährt sein Gehirn. Blutfäden laufen ihm aus Mund und Nase. Er stürzt im nassen Gras auf die Knie. Um ihn herum sinken seine Krieger einer nach dem anderen zu Boden.
Der Schwarm entfernt sich. Neera spürt, wie an den Enden ihres Bewusstseins knorpelige Auswüchse entstehen und sich mit Federn bedecken. Ihre Lippen verhärten, verlängern und krümmen sich, bevor sie sich öffnen und ein lang gezogenes Krächzen ausstoßen. Der Wind spielt in ihrem Gefieder. Es riecht nach Aas und Kot. Überall um sie herum rauschen Flügel, hört man Vogelschreie.
Durch die Augen des Anführers der Krähen sieht Neera in der Ferne die Leichen der Wilden in der Ebene liegen. Der Instinkt der Vögel verlangt, dass sie sich auf diese leichte Beute stürzen, aber irgendetwas ist in ihren Geist eingedrungen, das sie veranlasst, nach Norden abzubiegen. Erneut stößt der Vogel an der Spitze des Schwarms ein Krächzen aus, dem ein Chor rauer Stimmen antwortet. Langsam ändert er die Richtung, alle anderen folgen ihm. Weit vor ihnen stürmen graue Schatten über die Ebene. Noch ein Stück weiter erkennt die Krähe die lebende Mauer des großen Waldes, den die Menschen Kairn nennen. Das Wesen, das von ihrem Geist Besitz ergriffen hat, befiehlt ihr, die Schatten einzuholen, bevor sie den Wald erreichen. Die Krähe weiß nicht, warum, aber es ist offenbar wichtig. Ihr Stammhirn hat bereits angefangen zu bluten. Es gelingt ihr nicht, die Bilder zu erfassen, die sich in ihrem Kopf drängen. Krähen sind dafür zu einfache Tiere. Das Wesen, das sich seiner bemächtigt hat, weiß das, hatte aber keine Wahl: Es darf sich unter den Strahlen des leuchtenden Vatergestirns nicht ohne bergende Hülle bewegen.
Blut tropft aus dem Schnabel der Krähe. Die Muskeln
ihrer Flügel sind bis zum Zerreißen angespannt. Sie verliert an Höhe. Das Wesen ist wütend. Es hat sich auf den Geist der anderen Vögel verteilt, um seine Überlebensaussichten zu vergrößern, aber die schwächsten von ihnen sinken bereits dem Boden entgegen. Das Wolfsrudel taucht aus hintereinanderliegenden Höhlen auf und schneidet den Vögeln den Weg ab. Die gequälte Krähe kippt zur Seite weg und gibt den anderen auf diese Weise eine neue Richtung vor. Dann löst sich das Wesen aus ihrem Geist, während die Krähen vom Himmel zu Boden stürzen, wo sie wie Steine aufprallen.
17
Neera ist bei der letzten Erinnerung angekommen. Die jüngsten Bilder sind so neu, dass sie sich noch nicht vollständig im Gehirn des Wolfs festgesetzt haben. Die Ereignisse liegen nur Stunden zurück, manche sogar nur Minuten, und die letzten sind
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