Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
erst vor wenigen Sekunden eingetroffen. Nach und nach setzen sie sich mit Mühe zusammen, als falle es dem Wolf, oder genauer gesagt, dem Wesen, das ihn lenkt, schwer zu begreifen, was da geschieht. Doch unbestreitbar fügen sie sich zu einem Ganzen. Neera muss rasch handeln, bevor das Wesen, während es die letzten Erinnerungen durchgeht, begreift, dass der Wolf und es nicht mehr allein sind.
Sie fährt zusammen. Soeben hat sie das Wesen in den Tiefen des Wolfshirns entdeckt. Es pulst und wird größer, ist eine Art Kugel von brennendem, dunkel leuchtendem Orange, wie Lava. Starr spürt Neera, wie sich das absolute Böse daraus löst. Jetzt weiß sie, wer der Feind ist, der sich dem Lager nähert. Das Nichts. Sie begreift, dass sie gegen die Wölfe nicht als Wölfe kämpfen muss, sondern als
Träger jener Macht, die sie belebt und sie zugleich nach und nach tötet.
Der alte Leitwolf Kra ist stehen geblieben. Er wittert in der reglosen Luft. Die Wölfin geht weiter. Sie sieht ihm in die Augen, beschnuppert ihn und leckt seine Nase. Ein dumpfes Knurren steigt aus der Tiefe seiner Kehle empor. Neera nimmt diesen Laut auf, dessen Schwingungen durch die Kugel hindurchgehen und im Gehirn des Wolfs zu Wortansätzen werden.
»Warum bleibt Kra stehen?«
Der Leitwolf winselt vor Schmerzen. Jedes Wort verstärkt das Bluten im Inneren seines Schädels. Aus seiner leicht geöffneten Schnauze kommt ein wütendes Knurren.
»Friede, Rak! Melk grom! Böse Worte!«
Das Wesen wirft einen großen Lichtkreis in Kras Geist. Das Brennen wird unerträglich. Unter fürchterlichen Schmerzen hat das Tier Wörter in der Wolfssprache hervorgestoßen. Die Wölfin neigt den Kopf und sieht ihn aus ihren großen gelben Augen an.
»Melk grom, Kra?«
Die neuen Schwingungen pflanzen sich im Gehirn des alten Leitwolfs fort. Er will antworten, aber es gelingt ihm nicht. Er blutet. Er ist im Begriff zu sterben. Neera teilt der Wölfin auf telepathischem Wege mit, dass die Menschen bewaffnet sind und es für die Wölfe besser ist umzukehren, bevor es zu spät ist. Die Wölfin schnüffelt an Kras Fell. Ihr Fell sträubt sich, und ein dumpfes Knurren kommt aus ihrer Kehle.
»Wer ist in Kra?«
Das Wesen, das die Herrschaft über den Leitwolf an sich gebracht hat, ist unruhig geworden. Es begreift nicht, warum es ihm nicht mehr gelingt, unmittelbar mit dessen Geist Verbindung aufzunehmen. Es untersucht die Duftspur, die Rak erneut auf dem Fell des Leitwolfs aufnimmt:
Sie riecht nach Mensch, nach Frau. Die Wölfin zieht die Lefzen zurück, doch Kras mächtige Kiefer haben sich bereits um ihre Kehle geschlossen. Tief dringen seine Reißzähne in Knorpel und Sehnen ein. Warmes Blut läuft über seine Schnauze. Die übrigen Tiere des Rudels ordnen sich neu. Die Zeit drängt. Während Neera den Leitwolf drängt, seine Tat zu vollenden, nimmt sie flüchtig wahr, welchen Schmerz es ihm bereitet, die zu töten, die er liebt. Erinnerungen steigen in ihm auf. Der Geruch nach taunassem Gras, nach dampfendem Fleisch, der Anblick der Morgendämmerung, die über den weiten Ebenen aufsteigt. Dann wieder Gerüche: Höhlen, Urin, Exkremente. Ihr und sein Geruch, die sich vermengen, während sie kopulieren.
Die Wölfin stößt im Todeskampf einen Seufzer aus. Sie fleht Kra an, die Jungen zu verschonen, die sie trägt. Mit Tränen in den Augen spürt Neera, wie sich die Fänge des alten Wolfs durch das Fleisch seiner Gefährtin schließen, bis Rak auf einem Lager aus welkem Laub zu Boden sinkt.
18
Das Rudel hat sich neu gruppiert; einer nach dem anderen schnüffeln die Tiere an Raks Kadaver. Rumelk, der Jüngste und zugleich Kräftigste, hebt die Augen zu Kra, der vor Erschöpfung zittert. Neera weiß, dass es ihm schwerfallen wird, den Herausforderer zu besiegen. Ein hassvolles Knurren dringt aus dessen Kehle: »Rumelk töten Kra, melk grom shek tah!«
Shek tah. Es ist die schlimmste Beleidigung in der Sprache der Wölfe. Diese Laute bezeichnen Wölfe, die ihresgleichen fressen, das widerwärtigste aller Verbrechen. Der alte Leitwolf sucht in seinen Instinkten nach einer angemessenen Antwort. Er ist nicht bereit, die Worte zu verwenden,
die ihm das Wesen einflüstert. Er versucht, Ausdrücke zu finden, die Rumelk klarmachen, dass er die Tat nicht gewollt hat. Klagende Laute kommen aus seiner Kehle, sie weisen auf Tränen, Eis und Bedauern hin. Er möchte nicht mehr kämpfen, er möchte sterben. Jetzt konzentriert sich Neera darauf, Rumelk einen machtvollen Befehl
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