Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
Bewegung gesetzt und waren wie Schatten lautlos zwischen den Bäumen verschwunden. In diesem Augenblick war Neera aus dem Schlaf aufgeschreckt.
Von ferne knackt ein Ast. Neera erstarrt und hält Eko fest, der sich aufzurichten versucht.
»Ekos! Arlzan kiel anlat siom!«
»Kielo Neeras, Elzo kan.«
»Rak kielo! Elzo nalz kan!«
Neera ist aufgebracht, und sie hat Angst. Eko sieht der jungen Frau tief in die Augen. Er hat verstanden, dass sie in ihr Inneres zurückkehren muss, um zu erkunden, was die Wölfe tun werden. In dem Augenblick, da sich der Geist einer Aïkan vom Körper löst, der als leere Hülle zurückbleibt, ist sie am verwundbarsten. Sofern ihr Herz in einer solchen Situation stehen bleibt, muss ihr Geist auf alle Zeiten am Rande der Welten umherirren.
Neera legt Eko den Kopf auf die Schulter, der leise auf sie einredet und ihr über die Haare streicht. Mit zitternden Fingerspitzen berührt sie die Bernsteinperle an ihrem Hals. Ihre Augen verdrehen sich und werden tiefschwarz. Ihr Körper wird schwer.
15
Erneut hat sich Neera in den Leib des Wolfsrüden begeben, dessen Haarspitzen vor Erregung zittern. Das Rudel ist dem Lagerplatz gefährlich nahe gekommen. Durch die Nase des Tieres nimmt die junge Frau die Gerüche wahr, die dicht über dem Boden in der Luft hängen. Mühelos erkennt sie den Geruch ihres eigenen dicht an den Geliebten gedrängten Körpers. Während er die Nasenhöhle des Wolfs erfüllt, schlägt er laut mit seinen gewaltigen Reißzähnen ins Leere. Es überrascht Neera nicht, im Gehirn dieses wilden Geschöpfes Anflüge von Gedanken und Erwägungen zu erkennen, Spuren von Intelligenz, die darin gefangen sind. Sie dringt in das Gedächtnis seines Instinkts ein, so weit sie kann. Der Wolf hat angefangen, sich zu erinnern, wählt Bilder aus und bewahrt sie. Er hat sich bereits einen Namen gegeben. Er nennt sich Kra, ein kehliger Laut, der in seiner Sprache Feuer bedeutet. Ja, er ist der Leitwolf. Um seiner Autorität mehr Geltung zu verschaffen, hat er den Mitgliedern seines Rudels ebenfalls Namen gegeben – solche, die Gerüche, Geräusche und verschiedene Arten von Fleisch bezeichnen: Grom, Gral, Rumelk, Raan und Rak.
Rak ist seine Favoritin. Sie und Kra haben fortwährend Knurrlaute und Ansätze von Gedanken ausgetauscht. Sie denken nach, stimmen sich ab. Rak liebt Kra bis zum Wahnsinn. Sie trägt seine Nachkommenschaft in sich, auch wenn man es ihr noch nicht ansehen kann. Niemand im Rudel ist auch nur annähernd so grausam wie sie. Neera spürt, wie sie näher kommt und Kras Fell beschnüffelt. Sie hat Neeras Anwesenheit gewittert. Knurrend beißt sie spielerisch in sein Fell, doch er verscheucht sie mit gefletschten Zähnen. Sie ist nicht nur gerissen, sondern besitzt eine gewisse
Intelligenz. Angst bemächtigt sich der jungen Frau. Sie weiß, dass sie von einer solchen Mischung aus Boshaftigkeit und Schläue nicht das geringste Mitleid zu erwarten hat. Da Rak ihrem Gefährten nicht missfallen möchte, entfernt sie sich. Er hat ihr versprochen, dass sie als Erste über die Beute herfallen darf. In der reglosen Luft des Waldes hat sie die Witterung aufgenommen, die vom hellen Urin und dem Blut der Fortpflanzung ausgeht: den Geruch Neeras. Die Wölfin hat begriffen, dass sie Kra von dem Geschöpf befreien kann, das in ihn eingedrungen ist, wenn sie in den ausgestreckten Körper beißt, von dem dieser Geruch ausgeht. Sie läuft ganz dicht neben dem Leitwolf her. Sie wartet. Sie ist bereit.
Neeras Geist dringt immer tiefer in das Raubtier ein. Sie überwindet dessen kompakte primitive Empfindungen von Wut und Angst. In einer Schicht weit darunter nimmt sie die alten Erinnerungen des Tieres wahr. Bilder aus einer Zeit, da es nichts als ein Wolf war. Sie liegt lediglich zwei Tage zurück. Seither ist durch den Einfluss des Erzfeindes ein anderes Wesen daraus geworden. Neera konzentriert sich. Um mit Aussicht auf Erfolg gegen das kämpfen zu können, was sich da nähert, muss sie genau wissen, worum es sich handelt. Während sie sichtet, was sich im primitiven Gedächtnis des Räubers drängt, erstarrt sie.
16
Das Gedächtnis des Wolfs ist voll grauer und unscharfer Bilder. Es sind seine eigenen Erinnerungen. Die Höhlen von Neg. Neera sieht die Kinder ihres Stammes mit klaffendem Schädel, ihre winzigen Leiber unter Pelzen, die von Blut getränkt sind, wie auch die von Männern, denen man die Kehle durchgeschnitten und die Köpfe mit Keulenhieben
zu Brei geschlagen hat.
Weitere Kostenlose Bücher