Die Brut
könnten seine Augen die gute Nachricht aus ihr herausbrennen.
»Nein«, sagte Tessa leise, »immer noch nichts.«
Der Kommissar wollte keinen Kaffee. Tessa hatte eine ganze Kanne gekocht, die beiden Abhörspezialisten, die sich in Sebastians Arbeitszimmer installiert hatten, und die Psychologin hatten gern eine Tasse genommen. Es verwirrte sie, dass der Kommissar nichts wollte. Sie war sicher gewesen, dass Kommissare nie einen Kaffee ablehnten. Sie stellte die Kanne und die leere Tasse auf den Tisch zwischen den beiden cremeweißen Besuchersofas.
»Vielleicht möchten Sie später noch einen Schluck.«
Der Kommissar lächelte nachsichtig, als habe sie einen unpassenden Witz erzählt. Mit einer Hand streichelte er seinen Schnurrbart, mit der anderen zupfte er an dem Schnürsenkel seiner braunen Halbschuhe. Er hatte keine fünf Minuten benötigt, um sie über den aktuellen Stand der Dinge zu informieren. Suchtrupps mit Hunden durchstreiften noch immer den Wald, ein Helikopter mit Wärmekamera kreiste über dem Gelände. Beamte waren auf der Suche nach Passanten, denen etwas Verdächtiges aufgefallen sein könnte. Das Ergebnis war null.
Sebastian, der die ganze Zeit schweigend neben Tessa auf einem Sofa gesessen hatte – auch er hatte seine Tasse nicht berührt –, sprang plötzlich auf und rief: »Warum meldet sich dieser Irre nicht? Es kann doch nicht sein, dass dieser Irre sich nicht meldet.«
Arndt Kramer ließ von seinem Schnurrbart ab. »Es kann bedeuten, dass es dem Entführer nicht um Lösegeld oder sonst eine Erpressung geht.«
»Worum soll es ihm denn dann gehen?«
Tessa spürte einen kleinen Ruck. Sebastian musste von hinten gegen das Sofa getreten haben.
»Es kann zum Beispiel bedeuten, dass wir es mit einer verwirrten Person zu tun haben«, sagte Mara Stein, »mit einer Person, die es auf Ihr Kind abgesehen hat.«
Tessa hatte den Wortwechsel als aufmerksame Zuschauerin verfolgt. Als sich der Kommissar jetzt direkt an sie wandte, wäre sie beinahe erschrocken. So wie sie im Theater immer erschrak, wenn ein Schauspieler einzelne Leute im Publikum ansprach.
»Ist Ihnen in den letzten Tagen oder Wochen jemand aufgefallen, der Sie beim Joggen beobachtet hat? Vielleicht eine jüngere Frau, die schwanger zu sein schien oder ebenfalls einen Buggy geschoben hat? Die versucht hat, mit Ihnen ins Gespräch über Kinder zu kommen?«
»Warum soll eine andere Mutter unseren Sohn entführen, das ergibt doch keinen Sinn«, rief Sebastian, bevor Tessa etwas erwidern konnte.
»Sie haben vollkommen Recht, Herr Waldenfels, es klingt schwer begreiflich«, sagte die Psychologin. »Aber es gibt Frauen, die keine Kinder bekommen können, in denen der Kinderwunsch aber so stark wird, dass –«
»Warum soll diese Frau dann Tessa mit einem Buggy verfolgen?«, fiel ihr Sebastian ins Wort. »Das ist doch krank.«
Tessa schaute die Psychologin an, so als wollte sie sagen:
Sehen Sie, mein Mann stellt die richtigen Fragen
.
»Erst letztes Jahr hatten wir einen Fall, wo eine Frau parallel zu der Schwangerschaft ihrer Nachbarin eine eigene Schwangerschaft vorgetäuscht hat«, erklärte der Kommissar, »inklusive Babysachen kaufen und all das. Als die Nachbarin dann mit dem Kind aus der Klinik nach Hause kam, hat die andere sie umgebracht, ihr das Kind abgenommen und in den Kinderwagen gelegt, den sie vor einem Monat gekauft hatte.«
Sebastian musterte den Kommissar, als habe ihn dieser persönlich beleidigt.
»Nein«, sagte Tessa, »mir ist keine Frau aufgefallen.«
»Gab es in letzter Zeit in den Medien irgendwelche Fotos von Victor?«
Sebastian hatte sich abgewandt und blickte aus dem Fenster.
»Im letzten Herbst gab es mehrere Artikel über unsere Hochzeit und Victors Taufe«, antwortete Tessa zögernd. »Da waren natürlich auch Fotos von Victor dabei.« Sebastian zeigte noch immer keine Regung.
»Können Sie mir die Artikel geben?«
»Da muss ich schauen. Ich hoffe, dass ich die Sachen nicht weggeschmissen habe.«
Sebastian war aus seiner Starre erwacht. Er hatte seine Arme vor der Brust verschränkt und sah aus, als ob er jeden Moment losstürmen wollte. »Irgendein Irrer da draußen hat unser Kind, und Sie verplempern Ihre Zeit damit, Geschichten zu erzählen.«
»Ich verstehe Ihre Beunruhigung, Herr Waldenfels«, sagte die Psychologin, obwohl Sebastian den Kommissar angefahren hatte. »Aber solange wir kein Zeichen des Entführers haben, müssen wir in sämtliche Richtungen ermitteln. – Halten Sie es
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