Die Brut
für möglich«, wandte sie sich an Tessa, »dass jemand Victor entführt hat, um sich persönlich an Ihnen zu rächen?«
»Zu rächen?« Tessa kam sich vor wie bei einem dieser Gesellschaftsspiele, wo keiner weiß, wer zu welcher Mannschaft gehört.
»Gibt es eine Person, von der Sie das Gefühl haben, sie möchte Ihnen oder Ihrem Mann einen Denkzettel verpassen, etwas heimzahlen?«
»Was soll das?« Sebastian stieß sich mit beiden Händen von der Rücklehne des Sofas ab. Einen Moment fürchtete Tessa, er würde auf die Psychologin losgehen. »Finden Sie lieber unseren Sohn.«
»Herr Waldenfels, bitte.« Der Kommissar schien Ähnliches zu befürchten, denn er stand auf. »Holger!«, rief er in die Richtung, in der sich Sebastians Arbeitszimmer befand, »kannst du bitte kurz herkommen?«
Wenige Sekunden später erschien ein Beamter, den Tessa bislang noch nicht gesehen hatte. Er musste zusammen mit dem Kommissar die Wohnung betreten haben.
»Habt ihr schon die Fingerabdrücke und Speichelproben von Frau Simon und Herrn Waldenfels genommen?«
»Ich dachte, wir machen das lieber im Präsidium«, sagte der Mann, den der Kommissar Holger genannt hatte.
»Ach komm, das kriegt ihr doch auch hier hin«, gab Arndt Kramer zurück. »Ich würde Frau Simon und Herrn Waldenfels die Fahrt ins Präsidium gern ersparen.«
Holger nickte. Wenig begeistert.
»Bitte, Herr Waldenfels«, der Kommissar schaute Sebastian freundlich an. »Sind Sie so nett und begleiten meinen Kollegen?«
»Was soll das alles?« Die kleine Ader an Sebastians Schläfe, die nicht oft hervortrat, pulste.
»Es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass wir auf dem Buggy vereinzelte Fingerabdrücke finden. Wir benötigen Ihre und«, der Kommissar nickte Tessa zu, »Ihre Fingerabdrücke, um eben diese auszuschließen. Das Gleiche gilt für mögliche DNA-Spuren, die wir am Tatort sicherstellen. Es wäre gut, wenn Sie uns dann auch noch eine Liste mit den Personen geben könnten, die in letzter Zeit Berührung mit dem Buggy hatten.«
»Ich verstehe.« Tessa stand auf und strich das weiße Hemd, das sie vorhin angezogen hatte, glatt.
»Frau Simon, wenn Sie bitte noch einen Moment hier bleiben könnten.«
Sebastian beugte sich zu ihr hinab und umarmte sie. »Wir schaffen das. Heute Abend ist Victor wieder bei uns«, flüsterte er.
Tessa drückte seinen Oberarm. »Ja. Das ist er.«
Sie sah, welche Mühe es ihn kostete, nichts umzuwerfen, nichts kaputtzutreten auf dem Weg in sein Arbeitszimmer.
»Das war nicht nötig«, sagte sie, nachdem sich die Tür zum Flur geschlossen hatte. »Sebastian und ich haben keine Geheimnisse.« Eine braune Spur zog sich vom Ausgießer der Kaffeekanne bis zum Boden hinab. Der Impuls war stark, einen feuchten Lappen aus der Küche zu holen und die Kanne abzuwischen.
»Ihr Mann arbeitet zur Zeit in einer anderen Stadt?«, fragte der Kommissar.
»Er dreht seinen ersten Film.«
»Dann haben Sie sich bestimmt nicht viel gesehen in letzter Zeit?«
»An den Wochenenden kommt er nach Hause.«
»Wie lange sind Sie schon verheiratet?«
»Letztes Jahr im Oktober.«
Lesen Sie keine Zeitungen?
»Victor wurde am selben Tag getauft«, sagte Tessa laut.
»War Ihr Mann davor schon einmal verheiratet?«
»Nein.«
»Hat er Kinder aus früheren Beziehungen?«
Die Stimme des Kommissars war so unbewegt wie am Morgen. Ein Grenzbeamter, der seine Fragen nach Ziel und Zweck der Reise abhakte. Doch in seinen Augen entdeckte Tessa etwas, das sie für Mitgefühl hielt. Nein. Mitgefühl war nicht das richtige Wort. Interesse? Arndt Kramer verwirrte sie wie eine dieser Denksportaufgaben, wo man im ersten Moment
Das ist doch ganz einfach!
ruft und dann Nächte damit verbringt, das Prinzip zu knacken.
»Nein«, sagte sie. »Victor ist Sebastians einziges Kind.«
Der Drang, die Kaffeekanne sauber zu machen, wurde schier unerträglich.
»Wir haben bislang keinen einzigen brauchbaren Anhaltspunkt«, sagte der Kommissar nach einer kurzen Pause. Seine Stimme war leiser geworden, er hatte sich vorgebeugt, die Fingerspitzen beider Hände aneinander gelegt. »Das Einzige, was ich im Augenblick tun kann, ist, Ihnen Fragen zu stellen. Alles, womit wir arbeiten können, ist das, was Sie uns erzählen.«
Tessa starrte ihn an. Was sollten diese Bemerkungen? Verdächtigte er sie, etwas zu verheimlichen? Hatte sie sich doch geirrt, und es war gar keine Anteilnahme, die in seinem Blick lag? Sie hätte misstrauisch werden müssen, als er keinen Kaffee getrunken
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