Die Brut
hatte. Er wollte sie auf Distanz halten. Für ihn war sie nichts als das Objekt seiner professionellen Neugier.
Ihr Blick wanderte durch den Raum. Er streifte den Esstisch aus kaukasischem Nussbaum. Die beiden Ölgemälde, fliehende Landschaften. Sie sah den Flachbildschirmfernseher an der Wand. Die cremeweißen Besuchersofas. Arndt Kramer und Mara Stein waren Fremdkörper, die sie nicht lange in dieser Wohnung ertragen würde.
Tessa legte die Hände in den Schoß, senkte den Blick und schloss kurz die Augen. »Kommt es vor, dass sich ein Entführer nie meldet?«, fragte sie.
Die Psychologin wollte antworten, als von dort, wo der Kommissar saß, ein gedämpftes Knurren ertönte.
»Entschuldigung.« Arndt Kramer legte eine Hand auf den Bauch und versuchte zu lächeln. »Ich habe noch nicht einmal gefrühstückt heute. Mein Magen ist etwas empfindlich in letzter Zeit.«
Tessa starrte ihn an. Deshalb also hatte er keinen Kaffee getrunken. Fast hätte sie gelacht. Der Kommissar war magenkrank und hungrig. Wie ein Wolf würde er sich über ihre Vorräte hermachen, den Kühlschrank aufreißen, nicht zufrieden sein mit dem bisschen Fleisch, das er dort fand, »
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« würde er heulen, »
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«, er würde auf alle viere gehen, herumschnüffeln um die Tiefkühltruhe, schon glauben, eine Witterung aufgenommen zu haben, er würde die Fächer einzeln herauszerren, seine Pranken in die Aufbackbrötchen und Spinatklötze hauen. Er würde heulen vor Wut, dass er auch dort nicht fand, was seinen Hunger stillte.
»Sollen wir den Pizzaservice rufen?«, fragte Tessa und lächelte ihn an.
Feli flog ihr entgegen wie ein Engel auf Speed.
Fuck,
schluchzte sie an Tessas linkem Ohr,
fuck … fuck … fuck …
Es klang wie der Lockruf eines exotischen Vogels.
Nicht von Sebastian, im Radio hatte sie gehört, was passiert war. Ihr schlichtes, eng geschnittenes Kleid aus weißer Ballonseide sah neu aus. Ihre Locken waren seit dem letzten Treffen um eine weitere Nuance erblondet. Tessa konnte sich nicht erinnern, dass Feli und sie sich jemals so nahe gekommen wären. Beim Tod ihrer Mutter? Sicher nicht. Tessa hatte ihre Schwester damals weggestoßen und war in ihr Zimmer gerannt, wenn diese mit ihr zusammen hatte trauern wollen.
Du kapierst doch gar nichts! Du hast doch Mama gar nicht richtig gekannt!
Tessa spürte, wie Felis Tränen an
ihrem
Hals hinunterliefen und sich in
ihrer
Schlüsselbeinkuhle zu einem kleinen Tümpel sammelten. Die
Fucks
ihrer Schwester trösteten sie mehr als alles andere, was jemand in den letzten Stunden gesagt oder getan hatte.
Das glaube ich nicht. Das kann doch nicht wahr sein. Um Gottes Willen. UM GOTTES WILLEN.
Alle hatten sie inzwischen angerufen: Die Waldenfels, Tessas Vater, ihre Stiefmutter. Und alle hatten sie dieselben Hilflosigkeiten gestammelt. Wie lächerlich sich die menschliche Sprache im Angesicht der Katastrophe machte. Ein Chihuahua, der versuchte, einen Bernhardiner zu bespringen. Ihre Stiefmutter hatte es sogar fertig gebracht,
toi toi toi
zu wünschen.
Wieder klingelte das Telefon. Wieder fuhren alle zusammen, als wäre ein Meteorit in der Mitte des Raumes eingeschlagen. Wieder wollte Sebastian aufspringen, den Hörer an sich reißen. Wieder bedeutete ihm die Psychologin, das Gespräch Tessa zu überlassen.
Diese drückte ihre Schwester noch einmal fest an den Schultern, dann machte sie sich los und ging zu dem schnurlosen Apparat. Eigentlich war es Sebastians Telefon, Tessa hatte die Geräte am frühen Morgen ausgetauscht. Bislang schien es niemandem aufgefallen zu sein.
»Hallo?« Sebastians Atem war heiß in ihrem Nacken.
»Du bist’s, Attila«, sagte sie, damit alle im Raum – und nicht nur die Abhörspezialisten nebenan – wussten, dass es wieder nicht der war, dessen Anruf sie ebenso herbeisehnten wie fürchteten.
Sebastian stieß schmerzlich die Luft aus, die Haare in Tessas Nacken richteten sich auf. Ihr Körper war so empfindlich wie sonst nur nach einer durchvögelten Nacht.
»Mein Gott, Tessa, haben sie Victor inzwischen gefunden?«
Tessa verneinte. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Feli zu Sebastian ging und seine Hand ergriff.
»Ich konnte es nicht glauben, als die eben hier aufgetaucht sind und gesagt haben, dass Victor verschwunden ist. Mein Patenkind.« Aus dem Hörer kam ein Geräusch, dass Tessa für Schluchzen hielt. Sie kannte Attila seit drei Jahren. Nie hatte er geweint. Feli und Sebastian standen nun so eng umklammert, wie Feli und sie vor wenigen
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