Die Brut
hahaha
– diese Reporterin begann mit tränennaher Stimme zu erzählen, dass die Polizei noch immer keine Spur von dem Täter hatte, der in aller
Herrgottsfrühe
den Sohn der Fernsehmoderatorin entführt hatte. »Alle hier sind fassungslos. Niemand hier wagt sich auch nur annähernd vorzustellen, was Tessa Simon in diesen Augenblicken empfinden muss. Es ist ein Skandal –«, an dieser Stelle senkte sie Blick und Stimme, »– es ist ein Skandal, dass Politik und Polizei nichts unternehmen, um Menschen, die in diesem Land in der Öffentlichkeit stehen, um Prominente und deren Kinder besser zu schützen.«
Sebastian war unbemerkt hinters Sofa getreten, Feli stand einige Meter neben ihm. Schweigend schauten sie den Bildern zu.
»Dieser Dreck«, stieß Sebastian schließlich zwischen geschlossenen Zähnen hervor. »Ich kann diesen Dreck nicht ertragen!«
Tessa hatte nach der Fernbedienung gegriffen und den Fernseher ausgemacht, bevor Sebastian ein drittes Mal »Dreck« sagen konnte.
Tessa kannte die drei, seitdem sie für
Kanal Ein
s arbeitete. Bill war der beste Kameramann des Senders, Astrid die einzige Tontechnikerin, bei Hubert, dem Beleuchter, konnte man sicher sein, weder zehn Jahre älter noch fünf Kilo schwerer auszusehen.
Der Karton mit den Pizzaresten lag noch immer auf dem Couchtisch herum. Tessa brachte ihn in die Küche. Sie würde mit den Beamten reden müssen. Es ging nicht, dass sie ihr Essen nicht selbst wegräumten. Der Geruch von kalt gewordenem Fett verursachte ihr Übelkeit. Weder Sebastian noch Feli noch sie hatten einen Bissen angerührt. Ihre Schwester hatte sich verabschiedet, nachdem Tessa ihr garantiert hatte, dass sie jetzt alleine klarkommen würden.
Hubert hatte seine drei Scheinwerfer aufgebaut, Bill schlug vor, dass Tessa sich auf das Filzsofa vor dem Fernseher setzte, sodass sie den Raum und die Fenster als Hintergrund hatten. Sebastian sagte, dass sie die Aufnahme entweder vor der weißen Wand, von der er die abstrakte Schneelandschaft abgehängt hatte, machen würden oder nirgends. Tessa sah, dass Bill Sebastian widersprechen wollte, sie machte ihm ein Zeichen, das bedeutete:
Lass es sein
.
Sie ging zu Sebastian und berührte ihn am Oberarm. Seine Augen wichen ihrem Blick aus. »Vertrau mir. Es ist richtig. Wir müssen es versuchen.«
»Ja«, sagte er ohne Überzeugung. »Versuch es.«
Seitdem sie am Vormittag aus der Dusche gekommen war, hatte sie in keinen Spiegel mehr geschaut. Es gab keinen Zweifel daran, dass sie furchtbar aussah. Ein kleiner Lidstrich hätte sie beruhigt. Vielleicht hatte sie noch Zeit, kurz im Bad zu verschwinden. Der Kommissar und die Polizeipsychologin redeten leise an dem Esstisch, an dem sie alle zusammen ihren Auftritt besprochen hatten. Tessa war nicht sicher, was die beiden davon hielten, wenn sie sich schminken ging. Vermutlich würden sie es falsch verstehen.
»Wir wären dann so weit.« Bills Stimme unterbrach ihre Überlegungen.
Tessa setzte sich auf den Hocker, den Bill für sie an die weiße Wand gestellt hatte. Er ließ Sebastian durch die Kamera schauen, damit er sich selbst davon überzeugen konnte, dass von dem alten Melkschemel, den seine Eltern ihm vermacht hatten, nichts im Bild zu sehen war. Tessa versuchte ein schwaches Lächeln. Sie fand, dass Sebastian unnötig lange durch die Kamera schaute.
»Das weiße Hemd geht nicht«, sagte er plötzlich. »Vor der weißen Wand.«
Bill starrte Sebastian an, als sei er endgültig überzeugt davon, einen Mann vor sich zu haben, der den Verstand verloren hatte.
»Ich kann ein dunkleres Oberteil anziehen«, sagte Tessa schnell.
»Ist doch scheißegal.« Sebastian machte eine Geste, als wolle er sich selbst ohrfeigen, und ging in die hinterste Ecke des Wohnzimmers, wo er mit verschränkten Armen stehen blieb.
»Können wir dann?« Es war deutlich zu hören, dass Bill den Auftrag zu hassen anfing.
»Ich bin so weit.« Tessa zog das Hemd, das sich über ihren Brüsten ein wenig gewölbt hatte, glatt.
»Kamera läuft«, rief Bill.
»Ton läuft«, rief Astrid, die Tontechnikerin.
Tessa schloss die Augen.
Sag es
, flüsterte eine Stimme aus der Dunkelheit.
Fang an! Los!
Eine Träne drückte von innen gegen ihre Lider. Das Kameraauge blickte ihr schwarz und ruhig entgegen. Vor der Kamera brauchte sie keine Angst zu haben. Die Kamera war ihr Freund.
»Ich weiß nicht, wie ich Sie anreden soll«, begann sie leise. »Wer immer Sie sind … Wie immer Sie heißen … Bitte … Geben Sie uns
Weitere Kostenlose Bücher