Die Brut
immer ausdrucksloses Gesicht. Eine Stunde zuvor hatte sie ihren Satz an Wiebke getestet, diese war ihr lachend um den Hals gefallen. Und jetzt, endlich, begann auch Attila zu lächeln. Lasten fielen Tessa vom Herzen. Sie hatte es gewusst. Attila war nicht schockiert. Attila fühlte sich nicht verraten. Sie hatte seine Hoffnungen, die er in sie gesetzt hatte, nicht enttäuscht. Ganz gleich wie erfolgsorientiert, auf dem Grunde seiner halbtürkischen Seele war er ein Familienmensch.
»Wiebke, lässt du uns bitte einen Augenblick allein?«
Die Maskenbildnerin protestierte, Tessas Lippen waren noch nicht fertig, aber Attila schob sie mit einer bestimmten Geste aus der Maske hinaus. Als er die Tür hinter ihr geschlossen hatte, zückte er sein Handy.
»Ich kenne einen guten Arzt.«
Bislang hatte Tessa Attila nur im Spiegel angeschaut. Jetzt drehte sie sich auf dem schweren Schminkstuhl zu ihm um.
»Danke, ich habe selber eine großartige Ärztin«, sagte sie und lächelte.
Attila antwortete mit einem Lachen, das sie oft bei ihm gehört hatte, und von dem sie immer froh gewesen war, dass es nie ihr gegolten hatte. »Ich darf dich daran erinnern, dass du ab Januar eine neue Sendung zu moderieren hast.«
»Wofür hältst du mich?«
»Bislang habe ich dich für intelligent und ehrgeizig gehalten. Wofür ich dich jetzt halten soll, weiß ich nicht.«
»Attila. Bitte. Mach kein Drama. Das hat keinerlei Einfluss auf die Sendung.«
»Ach nein?«
»Nein. Ich garantiere dir, die Leute kriegen nichts mit.«
»Und ich kriege auch nichts mit, wenn du mich mittags anrufst und erklärst, dass du leider den Abend kotzend im Bett verbringen wirst?«
»Ich bin raus aus den Kotzmonaten.« Tessa merkte, dass der Satz ein Fehler gewesen war, in dem Moment, in dem sie ihn ausgesprochen hatte. Attila machte eine kurze kreisende Kopfbewegung, als ob er sie daran erinnern wollte, dass er in seiner Jugend einmal geboxt hatte. Ein Wirbel in seinem Nacken knackte.
»Wie weit bist du?«
»Dreizehnte Woche.«
»Scheiße.« Eine kräftige Faust knallte gegen die Wand, die nicht für kräftige Fäuste gemacht worden war. »Scheiße. Ich kann dich feuern. Ist dir das klar?«
»Du weißt genau, dass du das nicht kannst.«
»Scheiße.« Attila begann, den Kunststoffteppich mit seinen Sohlen zu malträtieren. Tessa musste an die Funken denken, die ihr Physiklehrer einem Gummistab entlockt hatte, nachdem er ihn mit Katzenfell gerieben hatte.
»Scheiße. Tessa. Ich hätte meine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass du keines von diesen bescheuerten Weibern bist, die ihre Karriere aufs Spiel setzen, nur weil sie plötzlich die Kindermacke kriegen.«
Tessa drehte sich zum Spiegel zurück. Sie schloss abwechselnd das rechte und das linke Auge, um ihre Lider zu betrachten, die bereits kunstvoll verschattet waren. Schön. Sie war wunderschön. »Holst du bitte Wiebke wieder rein? Wir haben nur noch zwanzig Minuten.« Im Hintergrund sah sie Attila, der immer noch auf den Teppich eintrat. Die Szene im Spiegel verschwamm zu etwas, das sehr weit weg und sehr absurd war. Tessa lehnte sich zurück und lächelte. Sie wusste, dass es eine gute Sendung werden würde.
Ach hallo. Theresia.«
Die Stimme am anderen Ende der Leitung verursachte in Tessa denselben Widerwillen wie damals, als sie sie zum ersten Mal gehört hatte. Ein halbes Jahr, nachdem ihre richtige Mutter gestorben war, hatte ihr Vater Feli und sie in das Restaurant ausgeführt, in das sie früher an jedem letzten Freitag im Monat zum Essen gegangen waren, und das sie, seitdem ihre richtige Mutter gestorben war, nicht mehr besucht hatten. Sie hatten sich an einen Vierertisch gesetzt, und Tessa wartete darauf, dass der Kellner das vierte Gedeck wegräumte. Ihr Vater, Feli und sie waren viel essen gegangen in der Zeit, in der ihre Mutter krank im Bett gelegen hatte. Und immer, wenn ein Kellner sagte:
Ich lasse den vierten Platz noch eingedeckt
, weil sich in dem Provinznest kein Kellner vorstellen konnte, dass ein Vater mit zwei Töchtern abends allein zum Essen ging, hatte ihr Vater gesagt:
Sie können abdecken
. Als ihr Vater an jenem Tag, an dem sie zum ersten Mal wieder in das Lieblingsrestaurant ihrer Mutter gegangen waren, sagte:
Sie können eingedeckt lassen
, wusste Tessa, dass etwas Furchtbares bevorstand.
»Theresia«, wiederholte die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Das ist aber schön, dass du anrufst.«
Ihre Stiefmutter war eine der Frauen, deren Stimme, ganz gleich, was
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