Die Brut
um Himmels Willen nicht einreden, dass mit deinem Gedächtnis etwas nicht stimmt.«
Ihr Vater schwieg.
»Soll ich dir einen Termin bei einem Spezialisten hier in der Stadt machen?«
»Hat deine neue Sendung schon angefangen? Karin und ich warten jede Woche darauf, dass wir dich endlich einmal live sehen können und nicht immer nur auf den Kassetten, die du uns schickst.«
»Papa. Wenn du Angst hast, dass du Alzheimer kriegst, solltest du dich untersuchen lassen.«
»Ja, das werde ich. Aber jetzt erzähl doch von dir.«
Tessa wusste, dass ihr Vater zu keiner Untersuchung gehen würde. Auch dann nicht, wenn sie ihm einen Termin machte.
»Die Sendung beginnt erst im Januar. Das hab ich dir doch erzählt.« Sie hatte nicht boshaft sein wollen. Ihren Fehler merkte sie erst, als ihr Vater: »Ach ja. Ja, ja« murmelte.
»Papa. Ich muss dir was sagen.«
»Ja?«
»Ich kriege ein Kind.«
Schweigen wuchs durch die Leitung.
»Papa? Bist du noch dran?«
»Das … das …« Die Stimme ihres Vaters war so belegt, wie Tessa sie seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr gehört hatte. »Das … das ist …«
»Schon gut. Ich wollte es dir ja nur gesagt haben.«
»Theresia. Das … das …« Ihr Vater war nie gut darin gewesen, Gefühle auszudrücken.
Erfreulich
.
Hochinteressant
.
Geschmackvoll
. Tessa sah ihn im Geiste alle Adjektive durchgehen, bei denen er sonst Zuflucht suchte. »Karin wird sich so freuen.«
»Ich will nicht, dass du es ihr sagst.«
»Was?«
»Mein Kind ist mein Kind und geht Karin nichts an.« Sie merkte, dass sie zu laut geworden war. »Weißt du«, sagte sie gezwungen heiter, »ich habe einfach keine Lust, mir eine Aufzählung all der Krankheiten anzuhören, die mein Kind in den ersten drei Jahren seines Lebens haben wird. Und mir dann Tips geben zu lassen, wann ich am besten damit anfange, ihm die Nagelhaut zurückzuschieben.«
»Aber wie soll ich das machen?«
»Was?«
»Ich kann Karin doch nicht verheimlichen, dass sie Großmutter wird?«
»Karin wird nicht Großmutter.«
»Theresia.« Zum ersten Mal seit vielen Jahren hörte Tessa den Klang wieder, den die Stimme ihres Vaters bekam, wenn er ihr im Auftrag der Stiefmutter Strafpredigten hielt.
»Papa«, unterbrach sie ihn, »ich kann dich nur darum bitten, Karin nichts zu sagen. Alles andere musst du mit dir ausmachen.«
Sie beendete das Gespräch. Ihr Rücken schmerzte, als wollte ihr Kind in den nächsten Sekunden durch ihn hindurchstoßen.
Tessa war ihre üblichen fünfzig Bahnen geschwommen, lag am Pool, trank einen Guaven-Shake und blätterte in der Zeitung. Am Vormittag hatte ihr Friseur angerufen, dass er nun doch eine dunkelbraune Tönung gefunden hatte, die während der Schwangerschaft unbedenklich war. Der Streifen am Scheitel, der ihr natürliches Dunkelblond offenbarte, war bereits drei Zentimeter breit gewachsen. Morgen in der Sendung würde sie endlich wieder normal aussehen.
Auch Attila hatte sich beruhigt. Bei ihrem letzten Lunch, bei dem sie über mögliche Veränderungen des Formats – weniger Politiker, mehr populäre Gäste – gesprochen hatten, hatte er zum Dessert sogar gemeint, dass es PR-technisch gar nicht schlecht sei, wenn Tessa auf
Kanal Eins
schwanger begann.
Viele prominente Frauen waren in der letzten Zeit schwanger geworden oder hatten Kinder bekommen. Gerade eben hatte Tessa in der Zeitung von einer etwas älteren Kollegin gelesen, die ihren ersten Sohn zur Welt gebracht hatte. Er litt unter einem leichten Downsyndrom.
Tessa hatte sich immer noch nicht endgültig entschieden, ob sie eine Pränataldiagnostik machen lassen sollte oder nicht. Doktor Goridis hatte ihr gesagt, dass sie mit dreiunddreißig noch nicht ernsthaft zur Risikogruppe gehörte, dass sie eine Untersuchung des Fruchtwassers oder der Plazenta aber durchführen würde, falls es Tessa beruhigte. Die Vorstellung, eine Nadel in die Gebärmutter gestoßen zu bekommen, beruhigte Tessa allerdings nur mäßig. Außerdem hatte Elena ihr mit Hinweis auf die Gefahr einer Fehlgeburt von jeder Form der pränatalen Untersuchung abgeraten.
Tessa betrachtete ihren Bauch, der sich unter dem Badeanzug leicht zu wölben begann. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass darin etwas anderes als ein perfektes Kind wachsen könnte.
Sie wollte die Zeitung gerade zusammenfalten und weglegen, in fünf Minuten hatte sie ihren Termin bei der Kosmetikerin, da fiel ihr Blick auf eine Anzeige des Staatstheaters, ganz unten links auf der Seite.
Johann Wolfgang von
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