Die Brut
Jetzt hörte sie das Telefonklingeln. Der Fernseher lief stumm. Sie musste auf dem grauen Sofa eingeschlafen sein.
Mit steifem Arm griff sie nach dem schnurlosen Apparat. Es war bereits kurz nach eins. Das Display leuchtete:
Nummer unbekannt
. In der ganzen Wohnung brannten nur zwei Lampen. Sebastian war offensichtlich immer noch nicht zurück. Er hatte ihr gesagt, dass es heute spät werden könnte, ein Kollege, der in
Macbeth
mitspielte, feierte Geburtstag. Der Gedanke, dass Carola bei diesem Fest war, huschte durch Tessas Bewusstsein, wie ein Reh nachts auf die Straße rennt, kurz in die Scheinwerfer starrt und wieder im Wald verschwindet. Vor ein paar Tagen war sie in Sebastians Arbeitszimmer gegangen, um Tesafilm zu suchen. Der Besetzungszettel
Macbeth
hatte offen auf dem Schreibtisch gelegen. Ganz beiläufig hatte sie einen Blick darauf geworfen. Carola spielte nicht mit. Nicht einmal als Kammerfrau der Lady Macbeth.
Das Telefon klingelte noch immer. Bestimmt war es Sebastian, der wieder einmal vergessen hatte, seinen Handy-Akku zu laden und sie jetzt von dem Kollegen aus anrief.
»Ja?« Schon zu Rundfunkzeiten hatte Tessa sich abgewöhnt, am Telefon ihren Namen zu nennen.
Ein schweres Atmen war alles, was vom anderen Ende der Leitung kam.
»Hallo? … Sebastian?«
Das Atmen wurde schneller.
»Idiot.« Tessa beendete das Gespräch. Sie warf das Telefon neben sich auf die Couch und starrte es an, als habe es sich in etwas Aussätziges verwandelt. Ihre Nummer war geheim. Irgendein Verwirrter musste sie auf gut Glück gewählt haben. Wahrscheinlich gab es dem Spinner erst den richtigen Kick, vorher nicht zu wissen, ob er in einem Restaurant, bei einer Familie oder einer allein stehenden Frau anrief.
Tessa ging durch die halbdunkle Wohnung und knipste alle Lampen an. Sebastian hatte sie am Nachmittag gefragt, ob sie es nicht auch richtiger fände, das Loft aufzugeben und ein Haus irgendwo im Grünen zu suchen. Sie hatte versprochen, darüber nachzudenken. Es war gelogen. Nie würde sie darüber nachdenken, aus der Stadt wieder in die Provinz zu ziehen mit Jägerzäunen und Nachbarn, die Grillfeste feierten, und Gartensprenklern, die im Sommer pünktlich um acht Uhr abends ansprangen. Natürlich war ihr klar, dass das Loft als Kinderwohnung nicht besonders geeignet war. Zu viele offene Räume, die steile Treppe. Und als Kinderzimmer kam einzig Sebastians Arbeitszimmer in Frage. Er würde dann in das noch kleinere Gästezimmer umziehen müssen. Er würde es tun. Für sie und ihr Kind würde er alles tun.
Sie stand über das Waschbecken gebeugt und sah den blutigen Zahnpastaschlieren nach, die sie gerade ausgespuckt hatte – Elena hatte ihr gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen, sie habe jetzt einfach Blut für zwei –, da klingelte das Telefon wieder. Schnell spülte Tessa den Mund aus. Vielleicht war es doch Sebastian. Oder Feli, die mal wieder in irgendeinem Schlamassel steckte. Als sie unten im Wohnbereich ankam, war bereits der Anrufbeantworter angesprungen.
Sie hörte ein leises Knistern. Sonst nichts. Und dann wieder das Atmen. Schwerfällig. Als ob der Mensch am anderen Ende der Leitung Polypen hätte. Oder starkes Übergewicht. Ein schwitzender Koloss. Der in Unterhosen auf einer schäbigen Matratze saß.
»Tessa! Tessa!«
Dieses Mal wurde sie davon wach, dass jemand sie an den Schultern schüttelte. Sie schlug die Augen auf und schaute in Sebastians besorgtes Gesicht.
»Tessa. Was ist passiert?«
»Ich bin eingeschlafen.«
»Unter dem Tisch?«
Verwirrt drehte sie den Kopf zur Seite. Er hatte Recht. Sie lag auf dem Teppich unter dem langen Esstisch.
»Mein Gott, hast du mir einen Schrecken eingejagt. Ich komme nach Hause, alle Lichter sind an und von dir keine Spur. Ich war kurz davor, die Polizei zu rufen.«
Tessa setzte sich schwerfällig auf. »Irgend so ein Idiot hat hier ständig angerufen. Und auf den Anrufbeantworter gestöhnt.«
»Und deshalb hast du dich unter den Tisch verkrochen?« Sebastians Besorgnis hatte sich in Erheiterung verwandelt.
»Höhleninstinkt. Schwangere machen so Sachen.«
Er lachte und gab ihr einen Kuss. »Komm, Schwangere. Ich bring dich ins Bett.«
Beim Aufstehen stieß Tessa das Glas um, das neben ihr auf dem Boden gestanden hatte. Der Rest einer orangenen Flüssigkeit lief auf den Teppich. Sebastian bückte sich sofort.
»Sorry«, sie streckte sich und gähnte. »Ich muss wirklich ins Bett. Mein Rücken. War’s schön bei dem Geburtstag?«
»Ja.
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