Die Brut
hatte ich vor, eine ganze CD nur mit ihren Texten zu machen, aber dann – na ja, dann gab’s die
Sad Animals
eben nicht mehr.«
Da war er wieder. Der alte Sonnenschein. Hinter den Wolken hervorgebrochen. Tessa hob Victor aus dem Wagen.
»Kennst du
Dorfabend
?«, fragte Sebastian. »Das mit dem toten Kind und dem Oleander? Das ist auch wunderbar.«
»Beim weißen Oleander«,
begann Feli zu rezitieren,
»begruben sie das Kind
und horchten miteinander«,
stimmte Sebastian ein,
»ob nicht der falsche Wind
den Nachbarn schon erzähle,
dass es ein wenig schrie
–«
An dieser Stelle gerieten sie beide ins Stocken, Sebastian und Feli schauten sich an und begannen zu lachen.
»Entschuldigung. Sollen wir nicht doch lieber runtergehen?«, fragte er und wischte sich eine Träne aus den Augen. Tessa hatte Victor auf ihre Hüfte gesetzt und bückte sich nach dem Fläschchen mit seinem Tee.
Es war nicht einfach, den Kinderwagen an den vielen Schlaglöchern vorbeizunavigieren. Nur einmal, gleich zu Beginn, als sie in das Loft gezogen waren, hatte Tessa den Weg, der an den stillgelegten Gleisen entlangführte, ausprobiert. Sie hatte gehofft, er wäre eine gute Joggingstrecke, aber dann war sie doch lieber bei ihrer gewohnten Runde im Park geblieben. Der Weg, früher vermutlich ein Fahrradweg ins Zentrum, war verkommen, an zahlreichen Stellen der Asphalt aufgebrochen, dicke Grasbüschel sprengten den Belag.
Dennoch war Tessa froh, der Szene daheim entkommen zu sein. Sie hatte das Gekicher und In-den-Locken-Rumgedrehe ihrer Schwester nicht mehr ertragen. Vor einer Woche noch hatte sich Feli über den
Kulturknacker
lustig gemacht, und jetzt schmiss sie sich an Sebastian ran, als sei er der letzte Mann auf der Welt. Ein einziges Mal waren Feli und sie sich im Beziehungsgehege ernsthaft in die Quere gekommen. Tessa hatte den schönen blonden Jungen in ihrem Tennisverein kennen gelernt. Drei Monate waren sie
miteinander gegangen
, bis sie den Fehler gemacht hatte, Mark – so war sein Name – bei der Party zu ihrem achtzehnten Geburtstag Feli vorzustellen. Keine Woche hatte es gedauert, und der Sieg im Schwesternmatch war an die Vierzehnjährige gegangen.
Im Westen färbte sich die Sonne rot. Tessa fluchte leise. Der Kinderwagen war mit dem rechten Vorderrad in ein Schlagloch geraten. Es kostete sie Mühe, ihn rückwärts hinauszubugsieren. Aber wenigstens war Victor nicht aufgewacht.
Sie brauchte sich keine Sorgen zu machen. Sebastian war nicht Mark. Feli keine vierzehn mehr. Ihre Schwester benahm sich heute Abend nur deshalb so lächerlich, weil es ihr schlecht ging und sie betrunken war.
Tessa betrachtete den ausrangierten Güterwaggon, der links auf den Gleisen stand. Bauchige, kantige und sehr bunte Grafitti bedeckten ihn, sodass vom ursprünglichen Ochsenblut fast nichts mehr zu sehen war. Duftmarken setzen. Das war alles, worum es in dieser abwaschbar gewordenen Welt ging.
Sie kam an einem ehemaligen Fabrikgebäude vorbei, Backstein, die Fenster eingeworfen. Nicht unähnlich dem Gebäude, in dem sie wohnten. Ein hoher Bauzaun trennte das Grundstück vom Weg. Zwei Bagger standen herum, offensichtlich seit längerem nicht mehr im Einsatz. Erst nach einigen Metern wurde Tessa bewusst, dass an dem Bauzaun Plakatwände angebracht waren. Ob sich die nächtlichen Sprayer für den neuesten Pausensnack, der leichter, lockerer, leckerer war als alle vor ihm, interessierten? Die Plakate waren vergilbt, das Papier in großen Fetzen heruntergerissen. Im ersten Augenblick war Tessa nicht sicher, aber als sie einige Schritte näher kam, erkannte sie es. Das letzte Plakat an dem Zaun war ihr Plakat. Das
Now!-
Cover. Tessa schob den Kinderwagen schneller. Sie wollte schon Victor aus dem Wagen heben, ihm das Plakat zeigen und »Schau mal, Victor. Da. Da ist Mama. Mama mit dir« sagen, als sie die Schmiererei entdeckte, die jemand mit schwarzem Edding auf ihren Bauch gekritzelt hatte. Ein obszönes Strichmännchen. Daneben eine Sprechblase.
Hilfe! Ich will hier raus!
Der Sommer lud sich auf. Die Unwetter, die alle drei Tage übers Land zogen, gaben den ohnehin schon verwüsteten Feldern den Rest. Im Fernsehen sah Tessa einen Bericht über einen Bauern in Norddeutschland, der begonnen hatte, Kiwis anzubauen. Gletscherexperten sorgten sich ums Matterhorn. Deutsche Flüsse drohten auszutrocknen, während die amerikanische Ostküste weiter im Regen versank.
Sie war mit Sebastian und Victor in die Stadt gefahren, um sich nach einem
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