Die Brut
Victor!«
»Lo-fickorr«, lallte Curt und patschte mit schokoladenverschmierter Hand in Victors Gesicht. In Sekundenbruchteilen verengten sich Victors Augen, die eben noch blau geleuchtet hatten, zu Schlitzen. Er begann zu schreien, bevor Tessa ihn an ihre Schulter legen konnte.
»Ist ja gut … Sshhh … Nicht weinen … Curt hat das nicht böse gemeint.« Tessa wischte den Schokoladenschmierer von Victors Wange. Sie sah, dass auch an dem weißen Giebelhimmel über dem Stubenwagen braune Flecken waren.
»Feli, würde es dir etwas ausmachen, Curt die Hände abzuwischen?«
»
Relax
. Es ist gar nicht gut für Kinder, wenn sie in so ‘ner sterilen Umwelt groß werden.«
Später am Nachmittag – Tessa hatte Victor unter den Augen ihrer Schwester gestillt, nachdem diese darauf bestanden hatte zuzuschauen,
super machst du das, Schwesterchen, bist ja ne richtige Tittenbraut geworden
– saßen sie auf der Dachterrasse. Victor schlief in seinem Kinderwagen, Tessa hatte einen extra Sonnenschirm für ihn aufgestellt, Curt spielte auf einer Wolldecke mit seinem Spielzeugbagger Würfelzucker-Verladen.
»Ich versteh echt nicht, was los ist in letzter Zeit«, sagte Feli. »Ich krieg Tausende von Angeboten, und dann kommt in letzter Sekunde immer was dazwischen.«
»Ich dachte, das mit der Filmrolle hätte geklappt«, sagte Tessa und fragte sich, ob sie Victor nicht doch wieder in sein Zimmer bringen sollte. Obwohl er im Schatten stand, war es sicher zu heiß für ihn.
»Pff. Das ist schon wieder so ‘ne Geschichte. Ich komm zum Casting, der Typ ist total begeistert,
Alles klar, Frau Simon, machen wir, Hand drau
f, und wie ich dann eine Woche später anruf, wo der Vertrag bleibt, sagt das Arschloch, sie hätten die Rolle leider doch anderweitig besetzt.«
»Blöd«, sagte Tessa und stand auf, um Victors Sonnenschirm zu verstellen.
»Oder die, die mich für’n Background haben wollten. Erst total begeistert und dann:
Sorry, wird leider nix
.«
Tessa drückte einige Tropfen Insektenschutzlotion für Säuglinge auf ihren linken Zeigefinger und tupfte Victor die Stirn. Seine Säuglingsakne war schlimmer geworden. Es fiel ihr schwer, keine Creme zu verwenden, aber Elena hatte ihr streng verboten, etwas gegen die Pickel zu unternehmen.
»Entschuldige.« Tessa kam an den Tisch zurück. »Was hast du gerade gesagt?«
Feli sah sie missmutig an. »Findest du nicht, dass du mit Victor ’n bisschen übertreibst? Dem geht’s prima, auch wenn du nicht alle zehn Sekunden an ihm rumzubbelst. Hast du’n Bier da?«
»Ich glaube nicht. Sebastian trinkt aus Solidarität auch nichts.«
Tessa bückte sich nach der großen roten Tiefkühlbox, die sie aus ihrem letzten Amerika-Urlaub mitgebracht hatte. Zwanzig Kilo Bücher, Schuhe und Kosmetika hatte sie damals auf der Rückreise hineingestopft. Es hatte sie einige Mühe gekostet, die Dame am Check-in-Schalter davon zu überzeugen, dass es sich um ein reguläres Gepäckstück handelte.
»Eine
Pepsi light
hätte ich da«, sagte sie.
Ihre Schwester verzog angewidert das Gesicht. »Wo steckt der Superpapi eigentlich? Ich dachte, er würde nicht mehr aus dem Haus gehen, seitdem der Kleine da ist.«
»Sebastian hat einen Termin in der Stadt.« Tessa schenkte sich aus der Karaffe ungesüßten Eistee nach. »Willst du davon noch einen Schluck?«
»Nee, danke.«
Curt hatte entdeckt, dass Würfelzucker-Verladen im Grunde ein langweiliges Spiel war und Würfelzucker-mit-ganzem-Bagger-zu-Puderzucker-Zerschlagen viel mehr Spaß machte.
»Wie alt ist Curt jetzt genau?«
»Eineinhalb.«
Tessa betrachtete den Jungen, der mit stupider Begeisterung auf die Zuckerwürfel eindrosch. Bitte, dachte sie,
lass Victor nicht so werden
. Erst jetzt fiel ihr auf, wie zerschlissen Curts T-Shirt und Shorts waren. Sie sah ihre Schwester an. Auch das leichte Sommerkleid, das diese trug, hatte einige Stellen, an denen der Stoff dünn wurde.
»Bist du sicher, dass ich dir nichts pumpen soll?«, fragte Tessa.
»Wie kommst’n jetzt da drauf? Ich hab doch gesagt, ich komm klar.«
»Hast du in letzter Zeit mit Vater telefoniert?«, fragte Tessa nach einem Schweigen.
»Ja. Schien ganz okay zu sein. Wieso?«
»Er macht sich Sorgen um sein Gedächtnis. Hat er dir nichts gesagt?«
Feli lachte. »Papa hat sich sein Leben lang immer Sorgen um irgendwas gemacht.«
»Es scheint ihm ernst zu sein. Ich überlege, ob ich ihm nicht einen Termin hier bei einem Spezialisten machen soll.«
»Lass man. Ich hab das
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