Die Brut
stehen und beugte sich über den Babyjogger, sodass sie Victor ins Gesicht schauen konnte. Seine Augen leuchteten wie Lapislazuli.
»Willst du mit Mama in den Wald gehen? Ja?«
Victor schüttelte die behandschuhten Fäuste.
»Du hast keine Angst, mit Mama in den Wald zu gehen?«
Victor lallte etwas, das in Tessas Ohren wie
Wada
klang. Lächelnd lief sie wieder an. Victor war so glücklich heute. So heiter. Bestimmt war er nun heraus aus der Quengel-Phase.
Obwohl die Laubbäume noch keine Blätter hatten, drangen nach wenigen Metern kaum mehr Sonnenstrahlen auf den Weg. Der Boden wurde matschiger, und es wurde noch schwieriger, den Babyjogger vorwärts zu schieben. Tessa sah an sich hinunter und entdeckte, dass sie bis über die Knie mit Schlamm bespritzt war. Mit einem merkwürdigen Gefühl des Vergnügens lief sie weiter und hätte beinahe gelacht, als sie ein Schlammspritzer von den Rädern des Babyjoggers direkt auf der Wange traf. Es tat so gut, wieder zu laufen. Victor vor sich herzuschieben erinnerte sie an die Rennen, die Feli und sie früher mit den Einkaufswagen in dem großen Discountmarkt vor den Toren ihrer Kleinstadt gemacht hatten, wo sie samstags immer hingefahren waren. Der Gedanke an Feli ließ Tessa einen Gang hoch schalten. Sie begriff es immer noch nicht. Was Sebastian plötzlich an ihrer Schwester fand. Es musste ein professionelles Interesse sein. Vielleicht war Feli für eine somnambule Selbstmordkandidatin wirklich die beste Besetzung. Und ganz gewiss tat es ihrer Schwester gut, endlich wieder eine Herausforderung zu haben.
Hör auf, dir Felis Kopf zu zerbrechen. Denk lieber darüber nach, wie es bei dir selbst weitergehen soll.
Die Quoten ihrer Sendung waren seit November kontinuierlich gesunken. Den letzten solide zweistelligen Marktanteil hatten sie Ende Oktober gehabt. Attila hatte ihr gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen. Weihnachten sei eine schlechte Zeit für Talkshows. Die Leute waren damit beschäftigt, auf Weihnachtsfeiern zu gehen, Geschenke einzupacken, den Baum zu schmücken. Aber Weihnachten war seit mehr als zwei Monaten vorbei. Tessa war nicht sicher, was es zu bedeuten hatte, dass Attila sich weigerte, mit ihr über die auch im neuen Jahr schlecht gebliebenen Quoten zu reden.
Das Geschäft ist generell in der Krise
, war alles, was er sagte. Es lag nicht an ihr. Sie hatte nicht abgebaut. Natürlich schlief sie so wenig wie noch nie. Natürlich konnte sie die Nächte vor den Sendungen nicht mehr völlig ungestört mit ihren Vorbereitungen verbringen. Aber sie war nicht schlechter geworden. Gut, sie hatte mitten in einer der Januar-Sendungen ihren Gast mit falschem Namen angesprochen. Hatte eine andere Sendung zwei Minuten zu früh beendet, weil sie das Handzeichen der Aufnahmeleiterin falsch interpretiert hatte.
Aber das passierte jedem
.
Ein Ast verhedderte sich in den Rädern des Babyjoggers, der Wagen blockierte, und Tessa wäre beinahe über ihn gestolpert. Victor wurde einmal nach vorn geworfen und wieder zurück. Sie stieß einen Schreckensschrei aus. Aber ihr Sohn lächelte sie an. Erleichtert beugte sie sich zu ihm hinab, um ihn auf die Stirn zu küssen. Irgendwo flatterte eine empörte Amsel auf. Jetzt erst sah sie, dass Victor in der rechten Faust etwas umklammert hielt. Vorsichtig berührte sie seine Hand.
»Was hast du denn da? Willst du Mama nicht zeigen, was du da Feines hast? Komm. Zeig Mama, was du in der Hand hast.«
Victor krähte und warf, was immer er gehalten hatte, davon. Tessa schaute in die Richtung, wo es gelandet sein musste. Einen Meter von ihr entfernt lag ein toter Vogel am Wegrand. Ein Spatz. Sie fuhr zurück. Es konnte nicht sein. Victor konnte unmöglich einen toten Spatz in der Hand gehalten haben. Seine Hand war viel zu klein, um einen toten Spatz zu halten, überhaupt, wie sollte ein toter Spatz – sie stieß die Luft aus. Neben dem Spatz lag ein Tannenzapfen. Sicher war es der Tannenzapfen gewesen, den Victor gehalten hatte. Schnell fasste Tessa wieder nach dem Babyjogger und lief weiter.
Bleib bei deinen Schritten. Bleib bei Victor.
An der Stelle, wo vor zwei Jahren der Familienvater erstochen worden war, brannten keine Kerzen mehr. Ein Strauß Blumen lag noch dort, so vertrocknet und verrottet, dass er aus dem letzten Herbst stammen musste.
Der Weg vor ihr erstreckte sich nun in einem langen geraden Stück, am anderen Ende sah Tessa einen Jogger entgegenkommen. Sie schaute auf ihre Uhr. Kurz vor halb acht. Irgendetwas
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