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Die Brut

Titel: Die Brut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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ließ Victor laut jauchzen und in die Hände klatschen.
    Der Jogger kam näher. Seine Hosen und sein Sweatshirt sahen schäbig aus, die Haare grau, strähnig. Und was, wenn er überhaupt kein wirklicher Jogger war? Tessas Hände umklammerten fester den Griff. Niemand würde sie hören. Mit einer Hand prüfte Tessa beide Taschen ihrer Jogging-Jacke. Nicht einmal ihr Handy hatte sie dabei. Was würde ihr das Handy auch nützen? Nichts. Der Mann konnte alles mit ihr, mit Victor anstellen, bevor sie –
    Der Mann war an ihr vorbeigerannt, den Blick stur nach vorn gerichtet.
    Tessa lief noch einige Schritte in die Richtung, aus der der Mann gekommen war, dann blieb sie schwer atmend stehen. Wenn sie sich richtig erinnerte, hatte sie noch nicht einmal die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Trotz der vielen Stunden auf dem Hometrainer hatte sie keine Kondition mehr.
    Langsam. Geh einfach langsam zurück
.
Drei Kilometer. Mehr ist es nicht
.
    Jetzt, wo sie nicht mehr ihren eigenen Puls in den Ohren hämmern hörte, waren die Geräusche des Waldes ungewohnt laut. Ein Knacken. Ein Rascheln. Irgendwo fiel etwas herab. Ein Ast. Sie lachte. Noch nie hatte sie sich im Wald gefürchtet. Sie trabte wieder los. Am besten sie ging heute Abend gleich noch einmal laufen. Ohne Victor. Sie musste in Form kommen. Wenn sie in Form kam, gingen auch die Quoten wieder nach oben.
    Der Himmel war sternenklar. Obwohl sie die Augen geschlossen hatte, sah sie die Lichter, die immer kleiner wurden, je schneller sie fiel. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie schon stürzte, am Anfang hatte es ihr Angst gemacht, aber jetzt begann sie, es zu genießen. Der Osterhase hatte viele Eier, Tiere und andere Geschenke gebracht. Er hatte sie überall versteckt, am See, in der Wohnung, auf der Dachterrasse. Den ganzen Sonntag hatten sie gesucht. Und alles gefunden bis auf ein kleines weißes Schaf, das der Osterhase in einem Gebüsch am See versteckt hatte. Bis zur Dämmerung hatten sie gesucht. Nichts.
    In der Ferne hörte Tessa Stimmen, ein Tuscheln, sie machte keine Anstrengung zu verstehen, was die Stimmen sagten, es ging sie nichts an. Sie konnte nicht aufhören, an das kleine weiße Schaf zu denken, das noch immer unter dem Gebüsch lag, nass, schmutzig, die ganzen letzten Tage hatte es geregnet. Sie musste es suchen gehen, sobald sie am Boden angekommen war.
    Etwas Kühles berührte sie zwischen ihren Brüsten, sie spürte einen Druck an ihrem Handgelenk, an ihrer Stirn. Gleich musste sie gelandet sein. Auch die Stimmen waren deutlicher geworden. Eine dunkle, männliche sprach so laut, dass Tessa sie nicht länger ignorieren konnte.
    »Ich glaube nicht, dass es etwas Ernstes ist.«
    »Ich mache mir schon seit einer Weile Sorgen.«
    Tessa blinzelte. Diese zweite Stimme kannte sie.
    »Das konnte ja nicht gut gehen mit dem vielen Abnehmen. Das waren bestimmt acht Kilo, die sie plötzlich runtergehungert hat.«
    Woher kannte sie die Stimme? Sie musste sich anstrengen.
    »Ich glaube, sie kommt wieder zu sich.«
    Etwas Stechendes wurde ihr unter die Nase gehalten. Sie presste die Augen fest zusammen.
    »Mach noch mal.«
    Wieder der beißende Geruch. Was wollten die Leute? Sie musste das weiße Schaf suchen. Sie musste sich ganz darauf konzentrieren, das weiße Schaf zu finden. Eine Sekunde glaubte sie gesehen zu haben, unter welchem Busch es lag.
    »Wahrscheinlich hat sie zu wenig getrunken. Sie hat mir erzählt, dass sie am Nachmittag zwei Stunden Laufen war.«
    Die Stimme des Mannes hatte das Bild verscheucht. Es hatte keinen Zweck mehr. Tessa öffnete die Augen.
    Menschen standen um sie herum. Besorgte Gesichter. Die sich wie bei einem Bildschirm, der nach und nach seine Pixel schärft, zu bekannten Gesichtern zusammensetzten. Attila. Wiebke, ihre Maskenbildnerin. Und ganz nah: Ben.
    »Gott sei Dank«, sagte er. »Du hast uns den Schreck des Lebens eingejagt.«
    »Was ist passiert?« Ihre Stimme klang schwach.
    »Ich bin hier reingekommen, und du hast auf dem Fußboden gelegen. Bewusstlos.«
    »Das kann nicht sein.« Sie versuchte sich aufzusetzen. Hände streckten sich ihr entgegen.
    »Sshhh … Nicht.«
    »Schön liegen bleiben.«
    Sie sah sich um. Es war ihre Garderobe. Sie erkannte den Spiegel. Den hässlichen Schrank. Das Sofa, auf dem sie lag. Den Mann, der auf der Kante des Sofas saß und ihr Handgelenk zwischen den Fingern hielt, kannte sie nicht.
    »Das ist Doktor Hermann. Er hat heute Abend Dienst.«
    »Sind Sie schon öfter in Ohnmacht

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