Die Brut
ich Gedichte liebe. – Ich weiß, dass es jetzt der dümmste Zeitpunkt für so ein Projekt ist. Aber es ist so eine phantastische Chance. Du weißt selbst, wie schwer es geworden ist, Filmfördergelder zu bekommen.«
Der zweite Zimtstern war nicht so hart. Hundert Fragen standen in Tessas Hirn Schlange, die sie alle nicht stellen wollte. »Und die Leute sollen in diesem Film nichts anderes machen als Gedichte aufsagen?«, sagte sie schließlich.
Er lachte leise. »Natürlich nicht. Wir wollen eine Geschichte erzählen. Mit den Gedichten. So wie
Winterreise
. Oder
Schöne Müllerin
. Nur dass es bei uns mehrere Figuren gibt. Eine junge Frau, todessehnsüchtig, aus Angst vor der ersten Liebe auf der Flucht vor sich selbst. Ein älterer Mann, zynisch, vom Leben enttäuscht. Ein etwas jüngerer Mann, Idealist –«
»Und du glaubst wirklich, dass es für so was ein Publikum gibt?«, unterbrach Tessa ihn. Die Vanillekipferl waren besser als die Zimtsterne.
»Absolut. Ich sehe das doch im Theater. Die Leute haben genug von diesem grellen, schnellen Dreck. Ich glaube, die Sehnsucht nach leisen, poetischen Sachen ist so groß wie schon lange nicht mehr.«
Victor zuckte im Schlaf mit den Fingern. Sebastian sah es und strich ihm lächelnd über den Kopf.
»Ich weiß. Es ist ein Dilemma. Einerseits will ich nichts lieber machen, als mit dir zusammen sein und sehen, wie Victor wächst, jeden Tag.« Er legte die Spitze seines Zeigefingers in Victors winzigen Handteller, und die schlafenden Finger griffen danach. »Aber es ist so eine unglaubliche Chance. Wer weiß, ob ich so ein Angebot jemals wieder bekomme.« Sebastian drehte seinen Kopf, um Victor auf die Wange zu küssen, und schüttelte ganz sanft die kleine Faust, die nach wie vor an seinem Zeigefinger hing. »Ich bin mir sicher, wenn er größer wäre, würde er sagen:
Papa, mach es!
«
Tessa konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Sebastian schaute sie an. Die Schatten in seinem Gesicht tanzten langsamer als vorhin. »Du würdest das doch schaffen«, sagte er. »Mit Katharina und allem.«
»Ich komme schon klar. Aber bist du wirklich sicher, dass du damit klarkommst?« Tessa schaute von dem Lebkuchenherz auf, dessen Schokoladenüberzug in ihren Fingern zu schmelzen begann. »Willst du wirklich auf einem Set herumstehen, wenn er das erste Mal
Papa
sagt? Wenn er das erste Mal alleine steht?«
Sebastian seufzte. »Das Dümmste ist, dass wir das meiste nicht hier drehen können.«
»Aber wieso denn? Es ist doch vollkommen wurscht, an welchem Seeufer eine junge Selbstmordkandidatin Goethe rezitiert.«
Sebastian lächelte. »Das Problem sind die Filmförderungen. Es gibt genaue Vorgaben, wie viel Prozent des Films wir in dem Bundesland drehen müssen, das uns den größten Zuschuss gibt.«
Auf dem Teller lag nur noch ein einziger Zimtstern. Tessa griff danach und steckte ihn in den Mund. Sie hatte ohnehin keine Lust mehr auf ein Abendessen. »Wie viele Drehtage sollen es werden?«
»Fünfunddreißig.«
»Das heißt, du bist alles in allem sieben Wochen weg.«
»Das hängt noch ein bisschen von der Besetzung ab, wie die Kollegen können. Und wie viel wir wirklich woanders drehen müssen.« Sebastians Gesicht hellte sich auf. »Und dann ist da noch was. Im Augenblick ist es einfach eine Idee, und deshalb wäre es besser, wenn du ihr noch nichts davon sagst, aber ich habe das Gefühl, dass Feli eine ideale Besetzung für die junge Frau sein könnte.«
»Feli!?« Die letzten Zimtsternkrümel verirrten sich in Tessas Luftröhre. Sie bekam einen heftigen Hustenanfall, der Victor weckte. Er begann zu weinen.
»Sshhh …« Sebastian streichelte ihn über den Hinterkopf. »Sshhh … Es ist ja nichts passiert … Nichts passiert«. Er trat mit Victor auf dem Arm hinter Tessas Stuhl und klopfte ihr den Rücken. »Mama macht nur ihr Bäuerchen … Siehst du?« Victor hörte auf zu weinen, noch bevor Tessa die letzten Krümel aus ihrer Luftröhre gehustet hatte.
»Feli soll in deinem Film mitspielen?« Tessa wischte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.
Der Grillabend. Dieses verdammte Gedicht, über das sie geredet hatten, das plötzliche Einverständnis, das zwischen den beiden geherrscht hatte
.
»Ich dachte, du wolltest Kunst machen«, sagte sie und wusste selbst, wie hilflos gehässig es klang.
Sebastian grinste. »Ich glaube, dass sie sich diese coole Fassade nur zugelegt hat, weil sie in Wahrheit ein sehr verletzlicher Mensch ist.«
»Ich fasse es nicht«,
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