Die Brut
sagte Tessa, immer noch heiser. »Du denkst ernsthaft darüber nach, dass mein verkokstes Babe von Schwester in deinem Film Gedichte aufsagen soll?«
»Feli hat mir bei unserem Fest erzählt, dass sie aufgehört hat.«
»Haha«, machte Tessa. »Dann muss das weiße Zeug, das ihr da am Nasenflügel geklebt hat, wohl der Puderzucker von der Hochzeitstorte gewesen sein.«
»Und wenn. Ich will sie ja nicht als Babysitter für Victor, sondern –«
»Entschuldigung?«
Tessa und Sebastian hatten beide nicht bemerkt, dass die Kellnerin an ihren Tisch getreten war.
»Ja?«, sagte Tessa, ohne größere Mühe an Freundlichkeit zu vergeuden.
»Ich hoffe, Sie finden das nicht zu aufdringlich«, sagte die Kellnerin, »aber es wäre so schön, wenn mein Sohn ein Foto von Ihnen machen dürfte. Sie alle drei. Vielleicht vor dem Kamin. Der Kleine ist ja so ein Wonneproppen.« Errötend schaute sie in Richtung Tresen. Der junge Mann dahinter grüßte herüber, indem er eine Kamera hob. Tessa hatte schon Luft geholt, um
nein
zu sagen, als Sebastian ihr zuvorkam. »Sicher«, sagte er. »Kein Problem.«
Tessa schaute ihn an und war nicht sicher, ob sie die Welt an diesem Januartag verstand.
Dann wollen wir mal, Sportsfreund.«
Tessa zog Victor die dicke Wollmütze auf, verpflanzte ihn vom Kindersitz, den sie vor ein paar Tagen auf dem Rücksitz ihres Mercedes hatte installieren lassen, in den Babyjogger und schnallte ihn fest. Noch auf dem Parkplatz fiel sie in einen leichten Trab. Die Verkäuferin hatte ihr empfohlen, den Jogger anfangs nur auf asphaltierten Wegen zu benutzen. Tessa hatte ihren Wagen deshalb nicht an der üblichen Stelle bei den Haselbüschen, sondern am Haupteingang abgestellt. Sie hoffte, dass es im vordersten Teil des Parks geteerte Wege gab. Sie lief durch den steinernen Torbogen und sah sich um. Sie hatte vergeblich gehofft. Nach einigen Metern hörte der Asphalt auf und ging in helle Kieswege über. Egal. Sie entschied sich für den rechten Weg, so musste sie auf die Strecke stoßen, die sie von ihrer früheren Runde kannte. Eineinhalb Jahre war es her, dass sie zuletzt hier gewesen war. Eineinhalb Jahre. Sie konnte es fast nicht glauben.
Die ersten Meter vom Auto in den Park war Tessa mit beiden Händen fest am Griff des Babyjoggers gelaufen, sie spürte jetzt schon, wie sich ihre Schultern und Arme in der künstlichen Haltung verkrampften. Unter der Mütze konnte sie Victors Gesicht kaum sehen, seiner Körpersprache nach schien er den Ausflug zu genießen. Vorsichtig versuchte Tessa, den Jogger ein Stück von sich wegzustoßen, um zwei, drei Schritte mit freien Armen laufen zu können, aber sie hatten bereits den vom Schnee der letzten Wochen durchweichten Kiesweg erreicht, der Wagen wollte nicht recht rollen. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, Victor gleich beim ersten Joggen mitzunehmen.
Mein Gott, was ist los mit dir? Seit wann lässt du dich entmutigen, wenn eine Sache nicht reibungslos anfängt.
Es musste der Besuch bei Nuala sein, der ihr noch in den Knochen steckte. Gestern Nachmittag war Tessa in die Klinik gefahren, in der die Sängerin lag, seitdem der Krebs zurückgekehrt war. Klein und schmal hatte die junge Frau in dem Krankenhausbett gelegen. Und auf eine perfide Weise war sie Tessa so schön erschienen wie noch nie. Trotz des roten Piratentuchs, das sie sich um den Kopf gebunden hatte.
Nuala hatte viel gelacht und Witze darüber gemacht, wie praktisch die neue Frisur doch sei.
Und eins garantier ich dir
, sagte sie zu Tessa, als ihre Mutter das Krankenzimmer für einen kurzen Augenblick verließ,
auch wenn ich das hier hinter mir hab: Nie wieder Cornrows!
Und Tessa lachte ausgelassen mit bei jedem weiteren Scherz, den ihre neue Duzfreundin machte. Doch die ganze Zeit sah sie den Abgrund von Angst, der sich hinter diesen schwarzen Augen auftat. Nur so konnte sie es sich erklären, dass sie Nuala beim Abschied noch einmal für den großartigen Panther dankte – das Plüschtier, das Sebastian keine Woche nach der Taufe in den Keller geräumt hatte – und erzählte, was für dicke Freunde Victor und
Baghira
geworden seien.
Dafür, dass sie immer noch langsam trabte, ging Tessas Atem viel zu schnell. Als sie vorhin auf das Thermometer geschaut hatte, waren es fünf Grad über Null gewesen, dennoch stiegen Schwaden dick und weiß wie Zuckerwatte aus ihrem Mund empor. Links tauchte die verwitterte Minigolfbahn auf.
»Willst du mit Mama in den Wald gehen?«
Tessa blieb
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