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Die Brut

Titel: Die Brut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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blauen Augen wurden zu Schlitzen, Scharten, durch die er seine wortlose Wut schoss, und er begann wieder zu schreien.
    »Verdammt! Was ist los mit dir! Ich verstehe dich nicht!« Tessa schleuderte das Glas auf den Boden. Es zersprang, und der hellbraune Brei spritzte bis in die Küche zurück.
    »Entschuldige. Es tut mir Leid. Das wollte ich nicht.« Victor hatte aufgehört zu weinen. Er schaute Tessa an. Eine Sekunde glaubte sie, ein Lächeln in seinen Augen gesehen zu haben. Boshaft. Voll Schadenfreude.
    Sie ging in die Knie, um die größeren Glassplitter von Hand aufzusammeln, bevor sie den Brei und die kleineren Glassplitter mit einem Lappen aufwischte.
    Du siehst Dinge. Victor ist noch kein Jahr alt. Er kann nicht boshaft sein.
    Tessa fuhr zusammen, als das Telefon klingelte. Auf dem Display sah sie, dass es die Nummer der Anwältin aus dem dritten Stock war. Hatte Victor so laut geschrien, dass man es bis dorthin gehört hatte?
    »Hallo?«
    »Tessa? Hier ist Patricia. Störe ich?«
    »Nein. Gar nicht.«
    »Folgendes. Ich fliege nächsten Freitag für einen Monat nach Indien. Kannst du in der Zeit Barnabas füttern?«
    Einen Moment glaubte Tessa, die Anwältin wolle sich lustig machen über sie. Sie wusste genau, dass Patricia Montabaur keine Kinder hatte.
    »Oder bist du schon wieder schwanger?«
    »Nein.« Tessa stieß ein Lachen aus.
Natürlich. Barnabas war die Katze.
    »Ich weiß, wie viel du um die Ohren hast«, redete Patricia Montabaur weiter, »aber das letzte Mal habe ich meine Putzfrau gebeten, und die scheint mit Barnabas gar nicht klargekommen zu sein. Es wäre mir sehr lieb, wenn ich es diesmal anders regeln könnte.«
    »Wie oft braucht er denn was zu fressen?«
    »Meistens ist er mit dem Trockenzeugs zufrieden. Wenn du das einmal am Tag auffüllst? Und Wasser? Ach ja. Und du hast doch jetzt keine Probleme mehr damit, ein Katzenklo anzufassen?«
    Tessa zögerte kurz. »Nein.«
    Patricia Montabaur lachte. »Ich hab ja keine Ahnung. Vielleicht darf man auch als junge Mutter nicht in die Nähe eines Katzenklos kommen.«
    Tessa überhörte ihre letzte Bemerkung. »Wann bringst du mir den Schlüssel?«
    Sie verabredeten, dass Patricia Montabaur am Sonntag auf einen Tee vorbeikommen sollte. Als sie das Telefon auf den Küchentresen zurücklegte, sah Tessa, dass sie mit einem Fuß in den verspritzten Brei getreten war. Sie beschloss, Victor ins Bett zu bringen.
    Er schrie mit neuer Kraft, als sie ihn aus dem Hochstuhl hob.
    »Ja, schrei nur, das ist mir völlig egal.«
    Sie wechselte seine Windeln, vielleicht war das der Grund, warum er so schrie, er war schon wieder verschmiert, den halben Rücken hinauf. Das Geschrei bohrte sich in ihren Kopf, von beiden Seiten arbeitete es sich direkt auf den Hirnstamm zu.
Drill
. Das englische Wort mit seinem rollenden
rr,
schrillen
i
und quälenden
ll
am Schluss beschrieb so viel besser, was das Geschrei ihr antat.
    Unsanft rieb sie Victor sauber, sie konnte ihn nicht mehr ertragen, den Geruch der Penatentücher, sie hatte Wiebke endgültig verboten, ihr Penatentücher zum Abschminken in die Garderobe zu stellen. Untrennbar war der Geruch verbunden mit dem faulig-süßlichen Geruch, den sie jetzt seit fast einem Jahr täglich roch, und von dem alle Welt behauptete, er sei
nicht schlimm
.
    »Verdammt. Jetzt hör endlich mit der Plärrerei auf!« Sie hatte Victor an den Schultern gepackt und einmal kräftig geschüttelt. Er schaute sie an. Den Mund zum Schrei geöffnet, aber diesmal stumm. So, als habe er seiner Mutter eine solche Tat nicht zugetraut. Mutter und Sohn starrten einander an, zwei Ringkämpfer vor der nächsten Runde.
    »Entschuldige! Victor. Es tut mir Leid. Ich wollte das nicht.«
    Sekunden, bevor dem aufgerissenen Babymund, dem Höllentor, neuer Lärm entströmte, wusste Tessa, dass sie verloren hatte. Sie cremte Victor sorgfältig ein, wickelte ihn neu, versuchte ihm den Schnuller in den Mund zu schieben, vergeblich, und begann, mit ihrem schreienden Sohn durch die Wohnung zu wandern.
    »Abends will ich schlafen geh’n, vierzehn Engel um mich steh’n …«
    Sie fing an zu singen. Katharina hatte behauptet, es wäre das Lied, das ihn am schnellsten beruhigte. Tessa hatte extra eine Gesamtaufnahme von
Hänsel und Gretel
gekauft, um es zu lernen.
    »Zwei zu meinen Häupten, zwei zu meinen Füßen …«
    Du musst lauter singen. Du musst ihn übertönen. Lenk ihn ab von seinem eigenen Geschrei
.
    »Zwei zu meiner Rechten, zwei zu meiner Linken

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