Die Buchmalerin
Als sie sich ein wenig nach vorn beugte, bauschte sich ihr Mantel aus grober brauner Wolle. Darunter wurde das schwarze Tuch eines Benediktinerinnenmantels sichtbar. Nun, dumm war sie nicht – ihr war klar gewesen, dass der Mantel auffällig war.
Roger ging langsam näher, wobei das Geräusch, das sie beim Graben verursachte, seine Schritte übertönte. Als er sie beinahe erreicht hatte, stand sie auf, wobei sie sich mit der Hand auf dem schneebedeckten Mauerrest abstützte. Sie wandte den Kopf, sei es, dass sie ihn doch gehört, sei es, dass sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte. Als sie ihn bemerkte, wurde ihr Gesicht starr und sie wich vor ihm zurück. Er griff nach ihr. Einen Moment lang blendete ihn die Sonne. Er ahnte mehr, als dass er es sah, wie sie den Arm hob, und vollführte eine abwehrende Bewegung. Ein Messer traf ihn am Unterarm und ritzte ihm die Haut auf. Sie stolperte davon. Er setzte ihr nach, geriet in eine Unebenheit im Boden und taumelte. Doch im Fallen gelang es ihm, nach vorn zu schnellen, ihren Knöchel zu fassen und sie zu Boden zu reißen. Sie schrie gellend auf und trat nach ihm.
Er stürzte sich auf sie und versuchte, ihre Hand zu greifen und ihr das Messer zu entwinden. Sie stieß ihr Knie in seine Lenden. Nicht mit voller Kraft, aber doch so, dass ihn der Schmerz wie eine heiße Welle durchströmte. Er spürte, wie sie unter ihm hervorkroch. Er warf sich zur Seite und es gelang ihm, sie mit seinem Gewicht zu Boden zu drücken. Wut stieg in ihm auf. Er ballte die Hand zur Faust und wollte ihr gegen das Kinn schlagen. Doch in diesem Augenblick sah er in ihr Gesicht. Es wirkte sehr weiß im Sonnenlicht. Ihre Augen waren weit aufgerissen und zeigten Panik und eine verzweifelte Wut. So wie damals, als er sie durch den leichten Schneefall auf das Tor des Klosters hatte zurennen sehen.
Dies brachte Roger wieder zur Besinnung. Er packte ihre Oberarme und drückte sie grob zu Boden.
»Gebt endlich Ruhe«, stieß er keuchend hervor. »Ich will Euch nicht umbringen. Und dafür, dass ich Euch einmal einen Verfolger vom Hals geschafft habe, könntet Ihr Euch ein wenig freundlicher verhalten.«
Sie versuchte noch einmal, sich aufzubäumen. Ihre Augen, das bemerkte er jetzt, hatten eine grünlich braune Farbe. Allmählich wurde ihr Blick klar und ihr Körper schlaff. Sie ließ den Kopf zurücksinken und rang nach Atem. »Ihr seid das also …«, murmelte sie.
Roger rollte sich von ihr herunter und hockte sich in den Schnee, danach schob er den Ärmel seines Hemdes und seines Mantels zurück. Ärgerlich betrachtete er seinen Unterarm. Dort, wo ihn Donatas Messer getroffen hatte, zog sich eine dünne Blutspur über die Haut. Gleichzeitig versuchte er, den Schmerz in seinem Unterleib zu ignorieren. »Ihr seid keine schlechte Kämpferin.«
Sie richtete sich langsam auf, ließ ihn nicht aus den Augen. »Warum seid Ihr mir gefolgt?« Ihre Stimme war leise, verriet aber dennoch Zorn.
Roger ließ den Ärmel über den verletzten Unterarm zurückfallen. Einen Moment lang schaute er zu den geschwärzten Resten der Giebelwand. Die Krone eines Baumes erhob sich darüber. Die Äste waren von einer dünnen Eisschicht überzogen und funkelten im Licht. Wie gesponnenes Glas, ging es ihm durch den Kopf. In dem Talgrund war es still. Nur von ferne war der Schrei eines Vogels zu hören und das leise Geräusch von Wasser, das sich irgendwo unter Eis und Schnee seinen Weg bahnte.
Er wandte sich wieder Donata zu. »Weil ich glaube, dass Ihr beobachtet habt – auf welche Weise auch immer das geschehen sein mag –, wie Enzio, der Kardinal von Trient, den Inquisitor Gisbert umbrachte.«
Ihr Gesicht wurde grau, wirkte, als würde es zerfallen. »Der Mönch war Gisbert, der Inquisitor?«, flüsterte sie.
»Ja, seine Leiche wurde mittlerweile entdeckt und nach Köln gebracht. Was habt Ihr gesehen?«
Sie schwieg und sah ausdruckslos vor sich hin. Schließlich sagte sie mit gesenktem Kopf, als ob sie zu sich selbst redete: »Ich hatte mich im Altar der Ruine verborgen … Ich habe Stimmen gehört und bin davon aufgewacht … Es waren vier Männer. Ein kostbar gekleideter Mann, dessen Antlitz dem einer römischen Statue gleicht – der Kardinal von Trient. Ein Mönch, der die Kutte eines Dominikaners trug … Ein kahlköpfiger, sehr muskulöser Mann … Und ein vierter … vornehm gekleidet … Ein Adeliger wahrscheinlich. Der Mönch sagte etwas … Plötzlich erstach ihn der Kardinal …« Donata
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