Die Buchmalerin
»Könnt Ihr versuchen, die Umrisse der Kirche in das Wachs zu ritzen und mögliche Verstecke ungefähr zu bezeichnen?«
Der Abt seufzte wieder, ehe er begann, ungelenke Linien zu ziehen.
»Dort müsste sich ein Altar befinden«, meinte er nach einer Weile etwas hilflos und markierte eine Stelle im rechten Seitenschiff der Kirche. »Der Sockel ist, glaube ich, an den Schmalseiten offen …«
*
In ihrem Gemach, das klares Morgenlicht füllte, führte die Äbtissin einen Federkiel an einer Liste entlang – einer Liste, auf der vermerkt stand, welche Anschaffungen das Kloster in den vergangenen Monaten getätigt hatte und welche Summe dafür jeweils ausgegeben worden war. Eine eintönige Arbeit, für die sie jetzt jedoch beinahe dankbar war. Denn diese Arbeit lenkte sie ein wenig von ihren Sorgen ab. Als sie bei den Ausgaben angelangt war, welche die Kirche betrafen – darunter ein neues Messgewand aus einem Seidenstoff –, seufzte sie und ließ ihre alten, knotigen Hände müde auf die Tischplatte sinken.
In wenigen Tagen würde der Prozess gegen die Beginen und Alkuin, den Begarden, stattfinden. Und sie saß immer noch ohnmächtig in diesen Mauern fest und fand keinerlei Möglichkeit, ihnen zu helfen. Abgesehen davon, darüber gab sie sich keinen Illusionen hin, würde sie selbst den Prozess wahrscheinlich auch nicht lange überleben. Dazu fürchtete Enzio viel zu sehr, was sie möglicherweise wusste. Nun, sie war alt, und in den vergangenen Wochen war ihr das Leben häufig eine Last gewesen. Aber die Vorstellung, dass so viele Unschuldige leiden mussten und der Mörder triumphierte, machte sie schier verrückt.
Sicher, dachte sie grimmig, Gott weiß, was wirklich geschehen ist, und denen, die unschuldig leiden, wird in seinem Reich Gerechtigkeit widerfahren. Aber diese Gerechtigkeit sollte sich – das ist meine Meinung dazu – schon auf Erden durchsetzen.
Schnelle Schritte ertönten auf den Steinfliesen des Ganges vor ihrem Gemach. Im nächsten Moment wurde die Tür aufgestoßen und eine junge Schwester hastete herein.
»Ehrwürdige Mutter«, stieß sie ängstlich und aufgeregt hervor. »Der Kardinal von Trient wünscht Euch zu sprechen. Er erwartet Euch im Kapitelsaal.«
»Es ist gut. Du musst dich deswegen nicht fürchten«, bemerkte die Äbtissin knapp. Was mochte dies bedeuten? Seit der Kardinal sie beschuldigt hatte, eine Ketzerin beherbergt und ihr zur Flucht verholfen zu haben, war er nicht mehr im Kloster gewesen.
Als Adelheid den Saal mit der gewölbten Decke erreichte, hatte Enzio in dem Lehnstuhl Platz genommen, von dem aus sie die Kapitelsitzungen des Klosters zu leiten pflegte. Die Äbtissin schob den Zorn und das Gefühl der Demütigung zurück, die in ihr aufsteigen wollten, und zwang sich, ruhig zu fragen: »Ihr wollt mich sprechen?«
Der Kardinal betrachtete sie aus seinen verhangenen, steingrauen Augen. »Der Abt des Klosters Maria Laach, Euer Großneffe, ist seit gestern in der Stadt. Er und ich werden, gemeinsam mit Erzbischof Heinrich von Müllenark, heute Abend das Messopfer in Eurer Kirche feiern. Euch zur Buße und Stärkung …«
»Ich bin Euch dankbar für diese Gunst …«, entgegnete sie knapp, während ihre Gedanken eigenen Wegen folgten. Ihr Großneffe war in der Stadt … Hatte ihn dieser seltsame Mann, der Kundschafter Friedrichs, über das informiert, was in der Stadt geschehen war? Ob sich dieser Mann doch an den Schwur hielt, den er ihr geleistet hatte?
Enzios nächste Worte zerstörten diese Hoffnung. »Ein Mönch aus der Stadt, ein Dominikaner namens Willigis, hat dem Abt Mitteilung darüber gemacht, dass Ihr unter dem Verdacht der Ketzerei steht, und er möchte Euch beistehen, wie es ihm als Angehörigem Eurer Familie und als Priester zukommt. Dem Abt liegt am Frieden und an der Versöhnung. Deshalb hat er darum gebeten, dass auch die Bewohner der Stadt dem Messopfer beiwohnen dürfen.«
»Nun, Gott vermag aus Schlechtem Gutes zu machen. Und wenn meine Sünden der Stadt zum Heil gereichen, schätze ich mich glücklich darüber.«
»Es freut mich, dass Ihr dies so aufnehmen könnt …« Noch immer ließ der Kardinal sie nicht aus den Augen. »Nun, ich habe der Bitte Eures Großneffen entsprochen.«
»Das ist sehr freundlich von Euch.«
»Ich würde Euch raten, die Messe zu nutzen und Gott um Vergebung für Eure Sünden zu bitten. Falls Ihr Euch ungebührlich benehmt und Streit und Unfrieden in den Gottesdienst tragt, werde ich dies nicht hinnehmen. Andere
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