Die Buchmalerin
Schleier tief ins Gesicht fiel.
Am Fuße der hölzernen Galerie erwarteten sie die übrigen Mönche, die Fackeln und Kerzen in den Händen hielten. Wie sie es verabredet hatten, verließ sie dicht hinter den Benediktinern das Areal der Abtei. Draußen vor dem Tor schaute sich Donata rasch und unauffällig um. Nein, keiner der Leute des Kardinals schien das Gebäude zu bewachen. Erleichtert registrierte sie, dass trotz der Kälte viele Menschen unterwegs waren. Wie die Mönche hatten auch sie Lichter bei sich. In der Nähe des Klosters verdichtete sich der Strom der Menschen noch mehr. Dann und wann hörte Donata die Leute leise miteinander reden. Doch sie war zu angespannt, um auf das zu achten, was sie sagten. Vielleicht würde schon an diesem Abend alles zu Ende sein. Und furchtbare Schmerzen und die Hölle warteten auf sie.
Unwillkürlich tastete Donata unter ihren Mantel und schob ihre Hand in das Bündel. Sie umklammerte das Lederstück, auf das sie den Thymianzweig gezeichnet hatte, und versuchte, sich das Abbild des Krautes zu vergegenwärtigen. Die Zweige waren ganz fein, aber an den winzigen Verästelungen auch ein wenig knorrig. Die Blätter spitz zulaufende Ovale, deren grüne Farbe auf der Unterseite eine geringe Beimischung von Weiß hatte und auf der Oberfläche von Rosa oder – bei älteren Blättern – auch von Lila.
Schließlich hatte sie die Gasse erreicht, von der aus ein Tor zu einem Friedhof führte. Auf dessen anderer Seite, am Ende einer hohen Treppe, so hatten die Mönche Donata unterrichtet, befand sich das Kirchenportal. Ängstlich achtete sie darauf, sich inmitten der Menschen zu halten. Je zwei von Enzios Leuten standen zu beiden Seiten des Tores. Die Männer wirkten ruhig und wachsam und ihrer Aufgabe sicher. Das Reden der Menschen verstummte, während sie unter dem steinernen Bogen hindurchschritten.
Donata starrte zu Boden, sah den Saum einer dunklen Mönchskutte, der vor ihr auf und ab schwang, sah derbe Stiefel, deren Leder rissig war, und den Schnee am Boden – eine graue, glitschige Masse. Doch nun war sie ungehindert auf der anderen Seite des Tores angelangt. Die Reihen der Gräber waren tief verschneit. Roger …, ging es Donata gegen ihren Willen durch den Kopf. Was die Leute des Kardinals wohl mit seinem toten Körper getan hatten? Wahrscheinlich hatten sie ihn irgendwo im Schnee verscharrt. Eine steile Treppe führte zur Kirchentür hinauf. Der eine Flügel stand offen, der andere war geschlossen. Flüchtig nahm Donata die Reihen von geschnitzten, farbig gefassten Figuren darauf wahr.
Die Apsis der Kirche war hell erleuchtet. Der Schein der Kerzen reichte bis in das breite Schiff – viele Menschen füllten es bereits – und entriss die Wandgemälde der Dunkelheit. Für einen Moment vergaß Donata ihre Angst. Der gleiche Bann hielt sie gefangen wie damals, als sie zum ersten Mal die Kirche der französischen Benediktinerinnen betreten und dort die Bilder an den Wänden gesehen hatte. Ihr Blick wanderte an den Gemälden entlang, an hohen Heiligen-Figuren, ineinander verschlungenen Pflanzen und an klaren geometrischen Ornamenten.
Langsam bahnte Donata sich, immer noch nahe bei den Mönchen, einen Weg durch die Menge. Ein schmiedeeisernes Gitter trennte den Chor vom Schiff der Kirche. Dort entdeckte sie Léon. Der Diener stand auf einer Stufe und beobachtete die Messbesucher. Sie hatte geahnt, dass sie ihm oder einem anderen von Enzios Leuten in der Kirche begegnen würde. Dennoch packte sie Entsetzen.
Donata berührte einen Mönch, der neben ihr ging, am Arm. »Der Diener des Kardinals, er steht vor der Chorschranke«, flüsterte sie. »Ich versuche, in den rückwärtigen Teil des Schiffs zu gelangen. Bleibt Ihr hier.«
Der Mönch nickte und gab den anderen Benediktinern ein Zeichen. Während die Mönche an ihrem Platz verharrten, schob Donata sich zwischen den Leuten hindurch, bis sie endlich den dämmrigen hinteren Abschnitt der Kirche erreicht hatte.
Erst nach einer Weile hatte sie sich so weit wieder beruhigt, dass sie es wagte, sich umzuschauen. Der Diener des Kardinals hatte seinen Platz an der Chorschranke verlassen. Er bewegte sich durch das Kirchenschiff, wo er die Gottesdienstbesucher mit seinen kräftigen Armen beiseite drängte, und auf die Gruppe der Benediktiner zu. Ihm folgten zwei Männer. Wahrscheinlich gehörten auch sie zu Enzios Gefolge.
Donata zog sich noch ein wenig weiter zurück. Kalte Luft wehte vom Portal herüber und streifte ihr Gesicht.
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