Die Buchmalerin
ihre Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt, hastete sie auf den Altar zu. Ihre Hände griffen erst ins Leere, ertasteten ihn dann jedoch. Sie bückte sich. Die Lücke in seinem Sockel war gerade breit genug, dass sie sich darin verbergen konnte. Donata schlüpfte hinein und kauerte sich nieder.
Nach und nach verklang das Geräusch der Fußtritte im Hauptschiff. Schließlich schloss sich der Türflügel. Jemand hatte ihn von außen zugemacht. In dem weiten Kirchenraum herrschte nun Stille. Sollte der Diener des Kardinals tatsächlich die Kirche verlassen haben? Während die Kälte des Steins in ihre Glieder drang, wartete Donata und schätzte die Zeit ab, die seit dem Ende des Gottesdienstes vergangen war.
Als Donata glaubte, dass etwa eine Stunde verronnen sein mochte, und, außer ihrem Atem und ihrem Herzschlag, noch immer kein Laut zu ihr drang, schob sie ihre Arme vor und begann, die Schuhe von ihren Füßen zu ziehen. Da sie kaum Bewegungsfreiheit hatte, gelang ihr dies nur mühsam. Nachdem sie sie in ihr Bündel getan hatte, kauerte sie sich vorsichtig auf die Fersen. Sie spürte, wie sich ein Stein in der Seitenwand des Sockels lockerte, während ihr Mantel an ihm vorbeistreifte. Hastig presste sie die Hand dagegen, um ihn am Fallen zu hindern. Ein schabendes Geräusch entstand, das ihr sehr laut vorkam. Geduckt blieb sie hocken.
Als sich noch immer nichts in der Kirche regte, wollte sie ihr Versteck endgültig verlassen. Doch plötzlich glaubte sie, ein leises Knirschen von der Apsis her zu hören. Wie Schritte, die sich vorsichtig über den Steinboden bewegten. Etwas in ihr hoffte, dass sie sich das Geräusch nur eingebildet hatte. Aber, auch wenn nur sehr leise, es ertönte wieder. Der Diener hatte seine Wache am Chorgitter doch nicht aufgegeben. Ob er sie gehört hatte? Voller Angst wartete sie, ob die Schritte näher kamen. Sie taten es nicht.
Dennoch erfasste Donata nur zu deutlich, wie aussichtslos ihre Lage war. Léon lauerte vor dem Chorgitter und versperrte ihr den Zugang zum Kloster und die Soldaten bewachten das Tor, das jenseits des Friedhofs hinaus auf die Gasse führte und das ihre einzige Fluchtmöglichkeit darstellte. Wahrscheinlich würde es ihr noch nicht einmal gelingen, einen der schweren Türflügel zu öffnen, ehe der Diener sie ergriff – und wenn doch, dann würden er und die Soldaten sie spätestens auf dem Friedhof packen.
Sie wartete weiter in der Dunkelheit, während ihre Glieder von der Kälte allmählich steif wurden. Sie begann zu zittern und umschlang ihre Knie mit den Armen. Trotz ihrer Furcht und obwohl sie so sehr fror, überfiel sie eine bleierne Müdigkeit. Donata kämpfte dagegen an. Sie durfte nicht einschlafen. Wenn sie sich im Schlaf bewegte und ein Geräusch verursachte und so ihr Versteck preisgab … Trotzdem dämmerte sie immer wieder für Augenblicke ein.
Irgendwann – sie hatte jedes Empfinden dafür verloren, wie weit die Nacht vorangeschritten war – schreckte ein Laut, der von der Apsis zu ihr herüberdrang, sie auf. Ein schwacher Lichtschein und der Geruch von brennendem Kerzenwachs drangen in ihren Winkel. Zuerst erfasste sie Entsetzen, denn sie glaubte, dass Enzios Leute nun die Kirche absuchten. Aber als sie den Klang von Sandalen auf dem Boden hörte und das Knarren des Chorgestühls, beruhigte sie sich wieder. Die Nonnen hatten die Kirche zur Komplet betreten, zur Gebetszeit, die den Tag beendete.
Eine der Benediktinerinnen, die eine warme Altstimme hatte, stimmte die Gesänge an. Die anderen fielen ein. Donata lauschte, während ihr der Gesang sehr weit entfernt schien, viel weiter als die vier Dutzend Schritte, die sie von der Apsis trennten. Ab und zu meinte sie, zwischen den singenden Frauen die spröde Stimme der Äbtissin herauszuhören. Manchmal erkannte sie Teile der Gesänge wieder, obwohl sie diese seit vier Jahren nicht mehr vernommen hatte. Sie trösteten sie und sie fühlte sich noch einsamer, als die Kerzen wieder erloschen und die Nonnen die Kirche verließen.
Donata begriff, dass sie nicht viel länger in dem Sockel bleiben konnte. Früher oder später würde sie tatsächlich einschlafen oder ihre Glieder würden so steif werden, dass sie nicht mehr zu gebrauchen waren. Wieder waren sehr leise Schritte von der Chorschranke her zu hören. Wenn sich der Diener doch nicht ausgerechnet dort aufhielte, dachte sie verzweifelt. Dann hätte ich eine geringe Möglichkeit, durch das Gitter und ins Kloster zu gelangen.
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