Die Bucht des grünen Mondes
wirklich eine Schlange aus den Schatten kam. Ihr wollten selbst wieder die Augen zufallen, denn der Abend hatte an ihren Kräften gezehrt. Da sah sie in seiner Faust ein zerknülltes Stück Papier. Ihr Geigenkasten war aufgeklappt.
Es war ihr nicht gelungen, wach zu bleiben. Ruben hatte seinen unnatürlich tiefen Schlaf schadlos überstanden, ihr jedoch war irgendetwas das Bein hochgekrabbelt. Sie hatte es während des unfreiwilligen Nickerchens gespürt. Aber erst der Stich hatte sie hochschrecken lassen.
«Deshalb müssen wir Pinda nicht wecken», erklärte Ruben. «Es ist nichts Ernstes. Du wirst ein paar Tage Schmerzen haben. Die Stelle wird schwellen. Es kann auch sein, dass sie fault.»
«Das klingt beruhigend.»
Sie fand, es war eine unpassende Zeit, zu rauchen. Er hatte sich eine unterarmlange, buntbemalte Pfeife angezündet und ließ sich ihr gegenüber nieder. Als er eine Hand auf ihren Unterschenkel legen wollte, stieß sie ihm die Ferse gegen das Knie und zog die Beine an. «Was machst du da?», rief sie. Ständig tat er überraschende und unverständliche Dinge.
«Dein Geschrei ist ermüdend», erwiderte er. «Alles macht dir Angst.»
«Einer Dame ans Bein zu greifen, ist ja auch beängstigend. Wenn du mich wenigstens endlich losbinden wolltest.»
«Nein. Du wärst längst in den Wald gelaufen, weil dir irgendetwas nicht passt. Und dort gestorben. Und jetzt halt still.»
Die Pfeife zwischen den Zähnen, griff er mit beiden Händen nach ihren Fußgelenken und zog sie auseinander. Amely sperrte sich mit aller Kraft. Erst als er sagte, das Insekt stecke noch in der Innenseite ihrer Schenkel, gab sie nach. Sie glaubte ihm nicht, doch darauf ankommen lassen wollte sie es auch nicht.
Er schob den Saum des Nachthemdes hinauf. Amely kniff die Augen zusammen. Als Kind war sie einmal beim Zahnarzt gewesen, und seitdem hatte sie gewissenhaft ihre Zähne mit Zahnsalz geschrubbt, um es nie wieder dazu kommen zu lassen. Sich zwischen die Beine starren zu lassen, war ganz ähnlich: Sie bohrte die Fingernägel in die Handflächen, betete und hoffte, es möge schnell vorübergehen.
Er nahm einen tiefen Zug, neigte sich über ihre Schenkel und blies den Qualm unter ihr Nachthemd. «Im Tabakrauch ist ein Heil-Geist», erklärte er die merkwürdige Behandlung. Der folgende leise Gesang durchdrang ihre Furcht, zerstreute sie. Wenn das alles auch nutzlos war – ihr tat es wohl. Sie entspannte sich ein wenig.
«Als Kind wurde ich auch einmal am Bein gestochen», sagte er. «An fast der gleichen Stelle.»
«Und was war das für ein scheußliches Getier?»
«Eine Wespe. Es war in der Sommerfrische auf Rügen.»
«Rügen?» Sie öffnete die Augen.
Sein Blick hinter dem Dunst aus Rauch war klar. Wissend. Er legte seine Pfeife an den Rand des Feuerlochs und öffnete einen Tontiegel. Behutsam verrieb er eine Paste auf der Stichstelle.
«Da waren wir in Europa, Vater und ich. Bei irgendeinem Familienfest, ich weiß es nicht mehr.»
Endlich zog er den Nachthemdfetzen über ihre Schenkel. Bei alldem wirkte er in sich gekehrt, als versuche er seine neue Vergangenheit zu ordnen. «Er schlug mich, weil ich so schrie. Er schlug mich ständig.»
Ja. Ich weiß, wie es ist
.
«Ich kann nicht genau sagen, wie alt ich war. Neun, zehn? Vater war schon immer schnell mit den Schlägen gewesen, aber er war fröhlich und großzügig. Dann starb Kaspar an Malaria. Vater wurde anders.»
Er stockte. Amely fürchtete fast, er überlege es sich anders, denn seine Miene nahm wieder diesen kühlen Ausdruck an. Doch dann sprach er weiter, und er sprach schnell: «Ich begann ihn zu hassen, wie nur ein Kind hassen kann. Und war froh, wenn er mir doch einmal das Haar zerzauste und dabei lachte. Dann kam der Ausflug auf dem Rio Negro … Ich freute mich, weil ich glaubte, er werde wieder wie früher – vielleicht hatte er sich das selbst erhofft. Er zeigte mir, wie man mit der Winchester umging. Er lobte mich, als ich bei einem Landausflug ein Queixada schoss. Aber er blieb unerträglich. Als ich das zweite Wildschwein mehrmals verfehlte, setzte es wieder Prügel. Ich hatte es so satt. Vielleicht war es die Waffe, die mich mutiger, ein Stück erwachsener machte – dass ich wusste, ich
wollte
es nicht mehr aushalten müssen.»
Er nahm einen der von ihm zerknüllten Briefe und zupfte daran herum. Sie würde ihm erklären müssen, dass man keine fremden Briefe las. Aber was war das jetzt für ein alberner Gedanke. Ihr Herz trommelte
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