Die Bucht des grünen Mondes
vor Aufregung.
«Die Ohrfeige war auch nicht anders als all die anderen vorher. Aber mir schmerzte der Kopf, dass ich dachte, er müsse platzen. Dann erinnere ich mich nicht mehr an viel, nur, wie ich mich durchs dichte Unterholz gezwängt und darüber gestaunt habe, schon ganz weit fort zu sein. Es braucht ja nur ein paar Meter, um sich zu verirren. Falls er oder die beiden Jäger, die uns begleiteten, nach mir riefen – ich konnte es nicht hören. Der Wald war zu laut. Mein Kopf war plötzlich zu laut. Und wurde nie mehr still.»
Inzwischen war der Brief so räudig wie ihr Nachthemd. Ruben starrte darauf.
Rede weiter. So rede doch weiter.
Sie wagte nicht, es auszusprechen, aus Angst, ein Wunder zu zerstören.
«An das Folgende erinnere ich mich nur noch bruchstückhaft. Mir ging es elend. Ich wäre im Wald in Windeseile zugrunde gegangen, hätten mich nicht Ava aufgegriffen.»
«Ava?», hauchte sie.
«Es bedeutet ‹Mensch›. Ich fand mich unter Indianern wieder. Sie brachten mich in ihr Dorf, aber gaben mich sofort weiter, im Tausch gegen Bogen und Pfeile. Der andere Stamm wusste aber auch nichts mit mir anzufangen. So geriet ich an den nächsten. Man band mich wie ein Schwein an einen Pflock und warf mir die Abfälle der Mahlzeiten hin. Ich erinnere mich an Männer mit blutverschmierten Affenfellen an den Gliedern. An Berge von Knochen, blutige Rituale … Die Huascúri hätte mich ganz sicher verspeist, wären nicht fremde Krieger in das Dorf eingefallen, um ihrerseits einen Überfall zu rächen. Sie töteten zwanzig Männer und raubten mich als Trophäe.»
«Die Yayasacu?», krächzte sie. Nie hatte sie etwas Schaurigeres gehört. Nicht einmal von Herrn Oliveira.
«Ja. Bei ihnen strafte mich Tupan endgültig für mein Fortlaufen. So jedenfalls dachte ich später darüber. Die Yayasacu waren die Ersten, die mich als einen Menschen in ihrer Mitte aufnahmen. Sie berührten mich, leckten mich ab – wie es dir erging, als du herkamst. Bald wurden sie krank. Sie fieberten, wälzten sich frierend hin und her und bekamen Ausschläge. Ich bekam davon nicht viel mit, aber mir gaben sie die Schuld. Und so viel begriff ich: Ich
war
schuld. Das halbe Dorf starb. Auch Py’aguãsu, der große Jäger, der mich aus den Händen der Affenleute befreit hatte. Rendapu wollte mich umbringen. Ich sehe noch das Messer in seiner Hand aufblitzen …»
Bisher hatte er sein Schicksal bemüht sachlich wiedergegeben. Hier jedoch schloss er kurz die Augen und krümmte sich fröstelnd. Als er weitersprach, war seine Stimme rau.
«Meine Mutter – meine
wahre
Mutter – fiel ihm in den Arm. Ihr einziger Sohn war ebenfalls der Krankheit zum Opfer gefallen. Sie wollte mich an seiner Statt. Das Unglaubliche geschah: Trotz der Gefahr, die ich anscheinend darstellte, ließ sich der Kazike von ihren Tränen erweichen. Später sagte man mir, dass von dem Tag an keiner mehr gestorben sei.»
Sein Blick veränderte sich, wurde wieder zum stolzen Yayasacu. «Dies hier ist dir sicher schon aufgefallen», er berührte die Narben an seinem Hals, an denen noch rote Farbe klebte. Amely nickte. «Rendapu tötete mich in einem Ritual. Der Junge der
Anderen
starb. Fortan durfte ich nichts mehr tun, was ihnen unverständlich war. Nie wieder durfte mir ein deutsches oder brasilianisches Wort entschlüpfen. Und ich habe mich daran gehalten. Alles, was man verlangte, versuchte ich so gut wie möglich zu machen. Denn solche Schmerzen wollte ich nie wieder erleben.»
Er fuhr sich durch seine verschwitzten Strähnen. «Alles wurde ausgemerzt, was an mein altes Leben erinnerte. Meine Haarfarbe ließ sich jedoch nicht ändern. Ich musste sie ständig mit der Jenipapo-Frucht färben. Aber es hält ja nie lange. Irgendwann hatte sich das Dorf daran gewöhnt, dass immer wieder das Blond zu sehen war. Als ich zum Mann wurde, bekam ich meinen Namen: Aymáho kuarahy.»
«Der Sonnenfalke. Wie nannten sie dich davor?»
«Gar nicht. Ich hatte keinen Namen. Ich war gezwungen, zu vergessen.»
Bis ich kam
.
Ermattet sank er auf den Rücken. Er rieb und zupfte an seinem Ohr und starrte zur Decke. Ihr knurrte der Magen, Durst plagte sie, ihre Blase drückte entsetzlich, doch es war ihr nicht wichtig.
«Willst du nicht heimgehen, Ruben?» Diesmal sprach sie es vorsichtiger an. «Es wäre deine Pflicht, das weißt du.»
Er drehte den Kopf nach ihr. «Ach, die preußische Pflichttreue, die gibt es hier nicht. Ich will nicht, dass er von meiner Existenz
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