Die Bucht des grünen Mondes
blickten sich die Frauen um, geduckt unter den Lasten, die sie auf Schultern und Rücken trugen. Der Dschungel war unruhig. «Es sind die Ameisen», sagte Tiacca. «Sie suchen einen neuen Platz, wie wir. Und verbreiten Furcht. Sogar Queixadas flüchten vor einer Kolonne von Ameisen.»
Amely fragte sich, ob die Erklärung ihr galt. Tiacca lief nur wenige Schritte entfernt. Als Jägerin trug sie lediglich ihre Waffen, wie auch die meisten Männer. Einige schleppten jene auf den Rücken, die zu alt und schwach zum Laufen waren. Wer nichts tragen musste, waren die Kinder, und so hatte man auch Amely nichts aufgeladen. Es war ihr peinlich, dass sie im Arm nichts weiter als ihren Geigenkasten hielt, der Rubens Schmuck, ein paar schöne Holzschalen, die unleserlichen Reste ihrer Briefe und den Revolver beherbergte. Doch von den Töpfen oder Beuteln wollte man ihr nichts überlassen. Geschweige denn einen der leichten Einbäume.
Weiter voraus lief Yami. Vielmehr stapfte sie linkisch; ihre Arme schwangen wie Dreschflegel. Bei jedem Schritt stöhnte sie leise. Und kamen sie an einem umgestürzten Baum vorüber, nutzte sie die Gelegenheit, sich darauf niederzulassen und die für ihren Leib viel zu kleinen Füße zu massieren. An solchen Bäumen mussten sie oft vorbei, darüber hinweg oder sich einen Weg durch freigelegtes Wurzelwerk bahnen. Noch mühseliger waren die neuentstandenen Wasserflächen, die sie manchmal bis zu den Hüften durchwateten. Immer wieder schüttete es aus heiterem Himmel. Die feuchte Luft war schwer zu atmen. Der Wald erschien Amely wieder wie in der ersten Zeit, nachdem sie Manaus verlassen hatte: als ein dampfendes, heißes Ungeheuer mit tausend Armen und Fängen. Sie rasteten an Wasserläufen, die von Fällen aus überwucherten Felswänden gespeist wurden. Rot und Blau von Araschwärmen blitzten im Grün haushoher Farne. In den Schrunden großer Kaschubäume nisteten weiße, violette und rote Orchideen. Die zierlichen Tentakel des Sonnentaus lockten Insekten. Farbenfrohe Raupen, pelzig wie Eichhörnchenschwänze, fielen Amely vor die Füße. Sie konnte all das Schöne nicht mehr würdigen. Sie war Teil des Urwaldes, der ihr nur das Überleben abverlangte. Hilflos war sie nicht – wie alle schnitt sie fleischige Blätter, stocherte in Rinden nach Larven, sammelte Paranüsse und die Früchte des Pitomba, ohne sich um Mücken und Dornen zu scheren. Die Männer brachten Beute: Pytumby trug ein Faultier am ausgestreckten Arm.
Habe ich so etwas nicht schon einmal gesehen, irgendwann auf meinem Schiff?
, überlegte Amely, während sie zwischen Steinen einen alten Vorrat gerösteter Bohnen mahlte.
Und warum erinnere ich mich jetzt daran?
Jopara, eines von Ku’asas Mädchen, kam und gab ihr stolz eine Handvoll Maden. Dankbar stopfte sich Amely die fetten Klumpen in den Mund. Wie hatte sie nur alles vergessen können, was zuvor gewesen war? Nein, nicht vergessen. Beiseitegeschoben wie einen hässlichen Gegenstand, den man möglichst nicht einmal aus dem Augenwinkel wahrnehmen wollte. Ihr Blick fiel auf ihre Hände. Irgendwann hatte sie ihren Ehering verloren, und es war ihr nicht aufgefallen.
Wie lange lag es zurück, dass sie zum letzten Mal diese Stimme tief in ihrem Innern gehört hatte, die sagte, dass es noch etwas anderes gab, etwas Wirklicheres als diese Welt hier? Sie hatte sie gehört, als sie über ihr Nachthemd strich, die Stickereien befingerte, die Zugschnüre des Halsausschnittes um die Finger schlang. Doch je mehr jenes seidene Relikt ihres alten Lebens zerfallen war, desto schwächer hatten die Namen der Menschen geklungen, die sie doch gemocht hatte. Maria, Miguel, Bärbel, Herr Oliveira, ihr Vater … Es fiel ihr schwer, sich ihre Gesichter vor das innere Auge zu rufen. Es war, als wäre ihr eigentliches Leben, als sie durch den Dschungel gelaufen war, wie ein Mantel an einem Ast hängen geblieben.
Tief neigte sie sich über ihre Arbeit und sah nicht mehr hin, wie Jopara mit einigen anderen Kindern zu dem Faultier lief, seit langer Zeit wieder lachte und es neckte.
Mein Leben in Manaus war zu schlimm, das bei den Yayasacu zu schön. Wo ist das wahre Leben?
Sie schlief wie ein Ava: leicht und mit allen Sinnen schnell wach. So spürte sie, dass Ruben den Arm von ihr nahm. Sie lauschte, wie er sich hinter ihr erhob und das Laub unter seinen Sohlen raschelte. Am heruntergebrannten Kochfeuer entzündete er einen Span und verließ das Lager. Er hinkte, als sei er irgendwo
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