Die Bucht des grünen Mondes
auf. Endlich – wenn auch nur für ein, zwei Stunden – frei!
Amely tat die Hand weh vom Fächern. Sie besaß einen Hut mit Schleier; warum hatte sie nicht daran gedacht, diesen aufzusetzen? So musste sie sich unentwegt den Angriffen der Mücken erwehren. Noch schlimmer war der Gestank, der alles in den Schatten stellte, was ihr bei ihrer Ankunft in die Nase gekrochen war. Aber das Gewimmel auf den breiten Prachtstraßen war nicht nur abstoßend; es war auch bunt, aufregend und fesselnd. Einiges hatte sie ja bereits von Herrn Oliveira gehört: dass man Kopfsteinpflaster aus Lissabon und sogar Bäume aus China und Australien eingeführt hatte, die nun gemeinsam mit Mangos, Avocados und anderen exotischen Gewächsen die Straßen säumten. Dass es eine Straßenbahn gab, die rund um die Uhr verkehrte, und dass man während der Fahrt nur die Hand auszustrecken brauchte, um eine der prallen Früchte zu pflücken. Überall hüpften Affen herum; sogar aus Restaurants kamen sie gesprungen, mit Beute in den Klauen. Anders als in Berlin wogten hier Arm und Reich in buntem Durcheinander: Männer in edlen Anzügen, die teure Gehstöcke und Waffen zur Schau trugen; zerlumpte Caboclos, die schwer an Kisten und Säcken schleppten; auf den Trottoirs kauernde Bettler. Dazwischen Nonnen und Mönche, Indios, Schwarze, Kreolen, Milizionäre, Botenjungen, halbseidene Mädchen. Dürre Kinder glotzten den Droschken nach. Und hier und da sah Amely ein schmutziges Händchen in den Taschen unaufmerksamer Passanten verschwinden.
«Agência de correio, Senhora!»
Die Kalesche hielt vor einem der vielen farbenprächtigen Gebäude in portugiesischem Stil. Der Junge sprang hinab, öffnete den Schlag und half Amely beim Aussteigen. Das Gedränge verschluckte sie wie ein gieriger Schlund, zog sie fast von selbst in die Halle. Sie bekam es mit der Angst zu tun. Fest drückte sie Handtäschchen und Schirm an sich. Die Meute hier drinnen schrie durcheinander, als sei dies eine Spekulantenbörse und nicht bloß ein Postamt. Sogar die Männer hinter den Schaltern gebärdeten sich wie toll. Weit kam Amely nicht – jemand riss ihr die Handtasche aus dem Arm und rannte hinaus.
Amely versuchte dem Dieb zu folgen. Der jedoch drängte sich mühelos durch die Menschenmenge, was Amely nicht gelang. Ihr Atem kam schwer, Maria hatte das Korsett viel zu eng geschnürt. Ach, warum nur hatte sie nicht auf die Negerin gehört? Wie peinlich, gleich am ersten Tag so von dieser neuen Welt vorgeführt zu werden. Das Personal würde hinter ihrem Rücken über sie, die einfältige Deutsche, lachen.
Ein Mann tauchte vor ihr auf, mit gelben Zahnstummeln und einem Atem, der ihr Übelkeit verursachte. Sie schob sich von ihm weg, stieß gegen eine Frau, die einen Korb voller Hühnerfüße geschultert hatte. Wo war nur der verflixte Stallknecht? Rufen konnte sie ihn nicht, sie kannte ja nicht einmal seinen Namen. Sie kämpfte sich zu einer Bank an der Wand und sackte darauf nieder.
Eine belustigte Stimme schälte sich aus dem Lärm: «Es gibt wirklich schönere Orte für einen ersten Ausflug.»
Langsam hob sie den Kopf. Zerschlissene amerikanische Nietenhosen, ein bis zur Brust offenes, verschwitztes Hemd über einem fleckigen Unterhemd. Ein Gesicht, das seit Tagen keinen Rasierschaum gesehen hatte. Und dunkle Augen, in denen der Spott stand.
Er lüpfte den Hut und hielt ihr die Tasche hin.
Würde er sie immer nur sehen, wenn sie in einem derangierten Zustand war? Amely erhob sich so würdevoll, wie es ihr möglich war, und hob das Kinn. «Gut, dass Sie hier sind, Herr …»
«Felipe da Silva Júnior.»
«Ah, richtig. Danke.» Sie nahm ihr Täschchen entgegen. Eher würde sie sich auf die Zunge beißen, als ihn zu fragen, wie es in seine Hände gekommen war. Oder weshalb er in der Nähe war. «Wenn Sie mich bitte zu meiner Kutsche begleiten würden? Sie steht vor der Tür.»
«Mit Vergnügen.» Er bot ihr den Arm. Amely zögerte. Das war unschicklich. Hinter ihm herzustolpern war allerdings auch nicht besser, also hakte sie sich ein. Mit der freien Hand schob er die Leute so ruppig wie selbstverständlich beiseite. Amely fürchtete, dass die Kalesche fort war, doch sie stand am Bordsteinrand. Von dem jungen Kutscher war nichts zu sehen.
«Was wollten Sie denn da drin?», fragte da Silva. «Etwa Post abgeben? Für eine Deutsche mag es ungeheuerlich klingen, aber die brasilianische Post ist alles andere als zuverlässig. Wahrscheinlich gelangt Ihr Briefchen
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