Die Bucht des grünen Mondes
gar nicht erst auf ein Frachtschiff, und falls doch, wird der Sack, in dem es steckt, bei hartem Seegang über Bord geworfen. Wer es sich leisten kann, verschickt seine Post auf privatem Weg. Hat Ihnen Oliveira das denn nicht gesagt?»
Wie peinlich.
«Lassen Sie sich nicht von ‹ordem e progresso› täuschen, das Sie da drinnen auf der Flagge über den Schaltern gesehen haben. Weiß der Teufel, wer auf den Gedanken kam, etwas so preußisch Klingendes zum brasilianischen Motto zu machen.»
«Auguste Comte. Ein französischer Philosoph.»
Spöttisch hob er eine Braue. Wahrscheinlich hatte er nicht mit einer Antwort gerechnet – wen interessierte das auch schon? «Sie haben sicher im Vorfeld viel gelernt. Aber das ist nichts gegen das wahre Leben. Nun schauen Sie mich nicht an, als wollten Sie mich mit Ihrem Schirm erschlagen. Haben
Sie
etwa die Kutsche gelenkt, oder warum wartet hier niemand?»
«Der Stallknecht sucht mich sicherlich …»
«Na los, hoch mit Ihnen.» Er klopfte auf den Kutschbock, statt ihr den Schlag zu öffnen. «Sie wollen doch etwas sehen von der Stadt, nicht wahr?»
Dort hinauf? Sie? Das meinte er ernst. Schon war er oben und hielt ihr die Hand hin. Ehe sie es sich versah, hatte sie zugegriffen und sich von seinem kräftigen Arm hinaufziehen lassen. Auf dem engen Kutschbock saß sie so dicht bei ihm, dass sie seinen Arm spüren konnte. Dachte er denn gar nicht daran, wie anstößig das war? Aber wenn sie sich so umschaute, mochte sie glauben, dass ein Mann hier leicht zum Opfer wilder Sitten werden konnte. Sie machte sich so steif wie möglich, damit er nicht auf den Gedanken kam, sie würde es genießen, an seiner Seite zu sitzen.
Da Silva ließ die Peitsche auf die Pferderücken knallen. Die Kalesche ruckte an. «Wohin möchten Sie?», rief er gegen den Lärm der Hufe und des Ledergeschirrs an.
Da musste sie nicht lange überlegen. «Zum Praça São Sebastião.»
«Ich hätte nicht fragen müssen», erwiderte er lachend. «Eine Dame will natürlich die Oper sehen.»
Amely krampfte die Hände um den Griff ihres Täschchens, angestrengt versuchte sie, so wenig wie möglich von ihm zu spüren. Wäre er doch nur nicht so unmanierlich! Seine Gegenwart war wahrhaftig kein Genuss. Sie öffnete den Schirm und legte sich den Griff über die Schulter. Da Silvas Anwesenheit verwirrte sie so sehr, dass sie kaum auf den Weg achtete; und als er am Rande eines weitläufigen Platzes anhielt, auf dem sich das größte Gebäude erhob, das sie bisher gesehen hatte, blinzelte sie wie nach dem Erwachen aus einem lähmenden Traum.
«Da ist das Prachtstück, Senhorita. Na ja, so viel sieht man ja noch nicht.»
Fast zur Gänze war es mit einem Baugerüst verkleidet. Doch aus dem Gewirr von Planen und hölzernen Streben und Brettern ragte eine gewaltige Kuppel hervor. Herr Oliveira hatte sie ihr beschrieben – aber die Wirklichkeit übertraf dies bei weitem. Gleißendes Licht brach sich auf goldenen, grünen und blauen Mosaiken, welche die Flagge Brasiliens nachbildeten.
«Das Gold soll einen Zentimeter dick sein», sagte da Silva.
«Eldorado», hauchte Amely.
Langsam lenkte er das Gespann über den Praça São Sebastião. «Ob das jemals fertig wird? Die bauen daran schon … wie sagt man in Preußen? Ewig und drei Tage.»
«Fünfzehn Jahre. Oh, es wird fertig, es wird! Es soll mit
La Gioconda
eingeweiht werden.»
Und ich werde dabei sein
. «Aus aller Welt hat man die Materialien zusammengetragen: Marmor aus Verona und Carrara, gusseiserne Säulen aus Glasgow, Zedernholz aus dem Libanon, diese goldenen Kacheln aus dem Deutschen Reich. Die Spiegel und Kristalllüster sind aus Frankreich, die Glaslampen aus Böhmen und Murano und die Seidenverkleidungen aus China. Der Bühnenvorhang wurde in Frankreich bemalt und die Theatertreppe von Gustave Eiffel erbaut.»
«Soso. Stammt irgendetwas dort drinnen von hier?»
«Aber ja! Das Holz des Parketts. Tropenhölzer sollen ja ganz außerordentlich widerstandsfähig sein. Aber man hatte es nach Europa gebracht, um es zu bearbeiten.»
Tabakgeruch riss sie aus ihrer Begeisterung. Er hatte sich eine Zigarette angesteckt, hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger; seine anderen Finger knautschten das Päckchen. Er kniff die Augen zusammen, während er einen tiefen Zug nahm. Sie ahnte, dass er an einer verächtlichen Antwort feilte. Um alles in der Welt wollte sie ihm zuvorkommen.
«Ach, lassen Sie uns weiterfahren», sagte sie rasch. «So wichtig ist das
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