Die Bucht des grünen Mondes
Ich heiße Amely. Ich bin deine … deine Stiefmutter. Die neue Frau deines Vaters, Kilian Wittstock. Verstehst du?»
«Wittstock», murmelte er.
«Ja, dein Vater.» Sie legte eine Hand auf ihre Brust. «Ich bin Amely Wittstock, seine Frau.»
In seinen Augen blitzte Begreifen auf.
Hinter ihr Schritte. Sie wandte sich um. Jemand kam über den Rasen gelaufen.
«Gehen Sie beiseite, Senhora Wittstock!»
Felipe.
Unwillkürlich tat sie es. Ein Mündungsfeuer, ein Knall. Weshalb schoss er, sie war doch nicht in Gefahr? Aber er konnte schwerlich erkennen, wer der Indianer war, der bei ihr stand.
«Es ist …»,
Ruben
, wollte sie sagen. Da legte sich Rubens Hand von hinten auf ihren Mund. Sein anderer Arm schloss sich um ihre Mitte. Sie fühlte sich von den Füßen gehoben. Plötzlich schwankte der Boden. In Rubens Armen stürzte sie die Böschung hinunter. Er packte sie an den Haaren, zerrte sie auf die Füße und warf sie in einen Einbaum. Amely kauerte sich darin zusammen; sie konnte sich kaum rühren, so sehr taten ihr von seiner rüden Behandlung die Knochen weh. Sie wagte es auch nicht. Das Boot wankte, als er es ins Wasser zog. Er stieß es in die Strömung, sprang über sie hinweg und begann zu paddeln. Amely umklammerte den Rand des Bootes und hob den Kopf. Unterhalb der Petroleumlampe stand Felipe, den Schussarm erhoben. Er wagte es nicht, erneut zu schießen.
Sie könnte einfach über Bord klettern. Ruben hockte vor ihr, den Rücken ihr zugewandt, und stieß das Paddel mit wilder Entschlossenheit ins Wasser. Als sie ein Bein über die Bordwand heben wollte, holte er mit dem Paddel nach hinten aus. Es klatschte auf ihre Hüfte. Aufstöhnend sank sie ins Boot zurück.
Von Felipe war nichts mehr zu sehen. Ob er wohl gerade ins Haus lief? Oder zu den anderen Booten?
Was würde Ruben tun, riefe sie jetzt nach Felipe? Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie durfte nicht vergessen, dass Ruben ein anderer geworden war. Er hatte indianische Wörter gebraucht. Er
war
ein Indianer. Aber wie konnte das sein? Hatte Felipe nicht behauptet, Rubens Leichnam gesehen zu haben? …
ich kam gerade dazu, wie ihn einer erschlug und skalpierte. Ich stürzte mich leider zu spät dazwischen.
Vielleicht hatte sich Felipe damals getäuscht.
Eine Überlegung, die sie hart auflachen ließ. Es hatte ganz sicher niemals einen zweiten blonden Jungen im Busch gegeben.
Der Einbaum huschte auf etwas Schwarzes zu. Ein Tier? Sie erkannte ihren Geigenkasten. Rasch, bevor er vorbei war, hob sie ihn ins Boot. Streng blickte Ruben über die Schulter, doch er unterließ es, ihr die Sachen aus den schützenden Armen zu reißen. Wo wollte er mit ihr nur hin?
«Flüchtest du vor Felipe da Silva?», fragte sie. Es tat gut, die eigene Stimme zu hören; es machte all dies eine Spur fassbarer. «Das ist bestimmt nicht nötig. Er wird dir nichts tun.»
Und für die Lüge gibt es sicher eine Erklärung
… Kaum war der Gedanke da, wusste sie auch die Antwort. Felipe hatte Ruben damals finden wollen, um sich Kilian anzudienen. Doch er hatte ihn nicht gefunden, auch nicht seine Leiche. Also hatte er behauptet, den Sohn wenigstens gerächt zu haben, und seine Rechnung war aufgegangen: Aus Dankbarkeit hatte Kilian ihn aus seinem elenden Dasein als Kautschuksammler erlöst. Nicht nur das, er hatte ihn zu seiner ‹Linken Hand› gemacht.
Ärger wallte in ihr hoch. Sie wünschte sich, jetzt vor Felipe zu stehen und ihm vor die Füße zu werfen, dass sie seinen Betrug durchschaut hatte.
«Wir müssen zurück!», rief sie. Der Einbaum wankte, als sie sich nach vorne arbeitete, um Rubens Arm zu schütteln.
«Mba’e piqo rierota?»
Jäh krümmte er sich, als hätte
sie
ihn geschlagen.
«Ruben?»
Er betastete seinen Leib und hob die gespreizte Hand, wie um ihr zu zeigen, dass er in Blut gefasst hatte.
«Großer Gott! Der Schuss!» Felipe hatte … Nein, das durfte nicht sein – ein solches Unglück durfte es nicht geben! Ruben sackte vornüber, das Boot schlingerte. Ganz unwillkürlich griff Amely nach dem Paddel, bevor es in den Fluss fiel. Sie tauchte es ins Wasser, versuchte gegen die Strömung anzurudern, die sie aus dem Igarapé in den Rio Negro trieb, doch sie besaß nicht seine Kraft. Wo sollte sie auch hin? Keinesfalls zurück, wo Felipe vielleicht nicht zögern würde, einen zweiten Schuss abzufeuern. In die Wildnis, wo ein Verletzter leicht Opfer von Beutetieren wurde? Jede Richtung erschien ihr unsinnig.
Sie hob das Paddel ins Boot.
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