Die Bucht des grünen Mondes
hinabtrat, glitt er aus. Er schaffte es gerade noch, sich seitlich auf die Böschung zu werfen. Doch auch die war glitschig; und so schlitterte er hinab in den Igarapé. Still fluchend kämpfte er sich an die Wasseroberfläche und schüttelte sich die Haare aus dem Gesicht. Seinem Bogen machte die Nässe nichts aus, aber sein Blasrohr war unbrauchbar geworden. Auch dass seine Federkrone fort war, ärgerte ihn, hatte er doch in voller Kriegspracht vor Wittstock treten wollen. Dieser Fehltritt war ein schlechtes Omen. Rasch griff er nach seinen Amuletten – sie waren noch da. Erleichtert atmete er auf.
Die Gestalt stellte eine Lampe auf der Mauer ab. Hatte sie ihn entdeckt? Folgte sie ihm? Er holte Luft, wollte sich ins Wasser ducken. Sicherlich war sie schuld an der Verwirrung, die ihn gepackt hielt, kaum dass er seinen Einbaum verlassen hatte. Aber sie sah ihn nicht an. Vorsichtig nahm sie eine Stufe nach der anderen, bis sie mit den Knien im Wasser stand. Unter dem Arm trug sie einen schwarzen Gegenstand. Den öffnete sie und bettete ihn sanft auf dem Wasser. Langsam hob sie die gespreizten Hände, wartete, ob er auch nicht unterging. Dann legte sie einige kleinere Dinge auf den geöffneten Deckel. Sie gab dem schwarzen Kasten einen sachten Stoß. Er glitt in die Strömung.
Was sie dann aus einer Tasche, die ihr am Arm hing, nahm, war eine jener Eisenwaffen. Sie fingerte daran herum. Entweder wollte sie ihn töten. Oder sich selbst.
Sie hob die Waffe – und entdeckte ihn.
Aymáho sprang aus dem Wasser. Er wollte sich auf sie werfen, bevor es ihr gelang, ihr Vorhaben auszuführen. Der Knall würde Wittstock aufschrecken, und dann wäre sein Plan, sich an ihn heranzuschleichen, für lange Zeit zunichte gemacht.
Das war es so oder so; er wusste es, noch während er auf die Frau zustürzte. Es sei denn, er brachte sie sofort um.
Warum auch nicht?
Seine Hand fuhr an den Griff des Messers an seinen Lendenschnüren.
Sie ist kein Geist, keine Gottheit. Sie ist nur eine Frau der Ambue’y.
Ihre Haare flossen offen und dunkel an ihren Schultern herab. Ein helles Gesicht, in dem die Augen aufgerissen waren wie die eines traurigen Kindes. Bevor er sie erreichen konnte, hatte sie den Arm vorgestreckt. Die Waffe zielte auf ihn, berührte seine Haut. Er erstarrte. Der Lärmgeist war nun so laut, dass er nicht sicher war, ob nicht längst der Knall gekommen und seine Brust durchbohrt war.
Die Frau ließ die Waffe sinken. Auch sie tat, was alle Ambue’y taten: Sie betrachtete ihn von oben bis unten.
Doch anders.
Sie streckte sich nach ihm und berührte sein Haar, die Amulette, von denen das Wasser den Lehm gewaschen hatte. Erkennen stand in ihren Augen, erstauntes, entsetztes Erkennen. Als sie den Mund öffnete, holte der Geist ein Wort aus der Tiefe seines Innern, wo es seit vielen Jahren verschüttet lag.
Und Aymáho wusste, dass sie es aussprechen würde.
«Ruben.»
1. Kapitel
Amely träumte. Sie musste träumen; eine andere Erklärung gab es nicht, dass einer von Kilians verstorbenen Söhnen vor ihr stand. Als ihre Finger seine nassen Strähnen berührten, war sie sicher, er müsse jetzt wie der Nebel auf dem morgendlichen Wasser vergehen.
Aber er blieb. Er lebte.
Täuschte sie sich auch wirklich nicht? Sein Haar war schwarz, aber hier und da zeigten sich blonde Strähnen. Sein ernster Blick, seine ebenso ernsten Züge, all das war wie auf den Photographien, die sie gesehen hatte. Nur dass sie jetzt einem erwachsenen Mann gehörten. Die kleinen Anhängerchen, die an einer Lederschnur auf seiner Brust hingen, hatte sie auch die nicht auf einem von den alten Bildern gesehen, dort jedoch an einem Armkettchen? Als sie sie berührte, wischte er grob ihre Hand beiseite und schloss seine Finger schützend darum. Er sagte etwas in einer Sprache, die indianisch klang.
«Sie werden sich alle freuen, dich zu sehen», rief sie. Nur am Rande ihrer Aufmerksamkeit nahm sie noch den Revolver in ihrer gesunkenen Hand wahr. Da keimte wieder Hoffnung auf – Ruben war zurück, Kilians verbittertes Herz würde geheilt werden. Er hatte wieder einen Sohn. Alles konnte wieder gut werden. «Komm doch, komm!»
Sie ging die Stufen hinauf, sich ständig zu ihm umwendend. Ja, er folgte ihr. Doch im Durchgang zum Park blieb er stehen.
«Was ist denn?», fragte sie vorsichtig. Er zögerte, duckte sich wie ein wildes Tier. Vielleicht erinnerte er sich nicht richtig. Wenn er nur nicht fortrannte … «Du kennst mich ja noch gar nicht.
Weitere Kostenlose Bücher