Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bucht des grünen Mondes

Die Bucht des grünen Mondes

Titel: Die Bucht des grünen Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Beto
Vom Netzwerk:
Gar nichts würde sie tun. Mochte doch der Fluss entscheiden, was geschah. Sie legte sich neben den zitternden Ruben.
    «Ich heiße Amely», flüsterte sie ihm ins Ohr. «Du bist Ruben.»
     
    Ich heiße Amely.
    Du bist Ruben.
    Ich heiße Amely.
    Du bist Ruben.
    Du bist verletzt.
    Ich heiße Amely
.
    Endlos hatte sie in dieser seltsam harten, seltsam vertrauten Sprache, die der aus der Stadt so gar nicht glich, auf ihn eingeredet. Sein Lärmgeist war verstummt. Es bedeutete wohl, dass der Tod nah war – und war damit nicht das Ziel seines Sehnens erreicht? Ewige Ruhe … Und auch der ungewohnte Schmerz in seinem Leib würde bald vergangen sein. Aber er wollte nicht sterben.
Zumindest nicht jetzt
. Er bat sie, ihn nicht sterben zu lassen, und es kamen auch Laute aus seinem Mund, die eigentlich nicht existieren durften – doch sie schien ihn nicht zu verstehen. In ihrer weißen, alles verhüllenden Kleidung trat sie an den Wassersaum, hob etwas sehr Fremdartiges aus dem Sand und warf ihr Haar zurück. Was ihre andere Hand hielt, erinnerte an den misslungenen Spielzeugbogen eines Kindes. Aber dies war keine Waffe. Es war …
    Musik, so fremd wie alles an ihr, erfüllte die Luft, erhob sich über das nächtliche Gurgeln des Wassers, über die Zikaden, über sein Keuchen. Sie war nicht Amely, sie war Yacurona, die Geist-Frau, die den Boto schickte, um einen Mann zu rauben. Hatte er nicht einen Delfin gesehen, kurz bevor er das Bewusstsein verlor? Und diese Bucht hier, sie erschien ihm im Mondlicht tatsächlich wie der Weg in die seligen Orte unter dem Fluss. Gleich würde Yacurona ihr Spiel beenden und ihn ins Wasser ziehen. Er wusste nicht, ob sein Herz so wild schlug, weil ihm die Wunde zu schaffen machte oder er tatsächlich Furcht verspürte.
Will ich wirklich als derjenige in die Geschichten meines Stammes eingehen, der sich von seinem Weg hat abbringen und nach Encante schleppen lassen?
    Er warf sich auf die Seite, grub die Finger in den Sand, um zu prüfen, ob es ihm gelänge, sich aufzurichten. Die Musik war fremd, ja, aber doch auch vertraut. Als habe er dergleichen vor langer Zeit gehört. Die ganze Frau rührte etwas in ihm an, von dem er dachte, dass es besser sei, wenn es tief in ihm verborgen bliebe.
    Ich heiße Amely.
    Du bist Ruben.
    Ich bin Kilian Wittstocks Frau
.
    Und wie sie da stand, versunken in ihr Spiel, war sie ganz eindeutig nicht mehr Herrin ihrer Sinne.
     
    Der Morgen brach an, der erste Tag des neuen Jahres. Der Boto war nicht gekommen. Sonnenstrahlen spiegelten sich auf dem Fluss, ließen die schuppigen Leiber von Fischen aufleuchten, die nach Mücken schnappten. Weit draußen, auf einer Sandbank, hatte ein Fischer mit seiner farbenfrohen Piroge festgemacht und hantierte mit seinen Netzen. Hier am östlichen Ufer jedoch, wo die Nacht noch herrschte, hing grünlicher Dunst über der Bucht. Amely setzte sich auf und spielte gedankenverloren mit dem weißen Sand. Sie wusste wohl, dass diese Bucht so gefährlich wie jeder Ort am Fluss war, wenn man nicht aufpasste. Auch dann,
wenn
man es tat. Aber die Schönheit der Weiden, Palmen, Akazien, Kokosbäume und vielerlei anderer Baumarten, wie sie die Äste dem Wasser zuneigten, umspielt von Schlinggewächs und roten und violetten Orchideen, welche sich in ihren schrundigen Falten festgesetzt hatten, war einzigartig. Wie flache Rundboote bedeckten riesige Seerosenblätter das Wasser; zwischen ihnen die rosigen Blütenstände. Libellen flatterten durch verwirrende Muster, welche die Lianen geschaffen hatten. Sonnenstrahlen fuhren durch Spalten und Lücken und ließen Amely glauben, sich in einer Kirche aus lebendigem Grün zu befinden. Papageien begannen schläfrig zu krächzen. Kolibris flirrten vor einladenden Blüten. Mücken standen in der Luft und schossen plötzlich im Zickzack davon. Über einen Ast schienen sich Blätter hinwegzubewegen: eine Kolonne von Blattschneiderameisen. Aus dem Sand wuchs ein Hügel, der sich als Schildkröte entpuppte. Eine Smaragdeidechse huschte über den Sand, zierliche Spuren hinterlassend. Diese Welt mochte gefährlich sein, doch sie leugnete zugleich die Gefahr.
    Amely raffte ihr Nachthemd und ging über dem Wassersaum in die Hocke, um sich zu erleichtern. Jetzt am Tage waren keine Piranhas zu sehen. Hatte sie wirklich in der Nacht hier gestanden und den
Tanz der Stunden
gespielt? Es musste so sein; die Musik war noch in ihr. Was war gestern nicht alles geschehen. La Gioconda. Der Schuss. Ruben. Sie war mit

Weitere Kostenlose Bücher